Flusenflug. Peter Maria Löw
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Dies war aber nicht der einzige positive Effekt. Durch die Reduzierung der Durchlaufzeiten wegen der eingesparten Transportzeiten zum Lohnfärber wurden mit einem Schlag DM 6 Mio. Working Capital frei, ein positiver Cashflow, der, wie das Manna über das auserwählte Volk, über die Firma hereinbrach. Ein Teil konnte als EK 0450 wieder einmal steuerfrei ausgeschüttet werden.
Schließlich gelang es uns damit auch, die Kundenbindung und Kundenzufriedenheit deutlich zu erhöhen. Nicht nur die kürzeren Durchlaufzeiten waren für die Kunden vorteilhaft, sondern durch den Garnfärbungsprozess konnten wir dem Kunden bereits bei Auftragserteilung zeigen, wie sein bestellter Stoff real aussehen würde. Dazu hatten wir einen Miniwebstuhl anfertigen lassen, in den man horizontal und vertikal jeweils zwanzig Fäden einspannen und so in Windeseile ein ca. pfenniggroßes Stoffstück in der gewünschten Farbe produzieren konnte. Damit war der Kunde nicht mehr auf Farbtafeln oder Referenzobjekte angewiesen, sondern hielt seinen Stoff schon bei Auftragserteilung in Händen.
Die Restrukturierung und Modernisierung der altehrwürdigen GG Langheinrich GmbH & Co. KG war ein voller Erfolg. Als neuen Geschäftsführer und weiteren Partner in den nun folgenden Industrietätigkeiten gelang es mir, Dr. Hans Wehrmann, zu dieser Zeit noch Partner bei der Boston Consulting Group51, zu gewinnen, der quasi als Juniorpartner bei uns einstieg und zunächst einen Anteil von 20 Prozent auf alle zukünftigen Akquisitionen inklusive Langheinrich erhalten sollte. Bei zunehmender Anzahl von Akquisitionen war es notwendig geworden, auf operativer Ebene einen weiteren hochintelligenten und durchsetzungsstarken Kopf zu installieren. Diese Herangehensweise sollte auch in der Zukunft weitere Früchte tragen. Hans Wehrmann war zudem ein guter Freund von Martin und mir. Er hatte mit uns gemeinsam das INSEAD absolviert und während ich zu McKinsey gegangen war, hatte er den Weg zur BCG eingeschlagen.
Eine weitere Vorgehensweise wandten wir auch bei Langheinrich wieder an. Da das alte Management für die vorgefundene Krise ja zumindest mitverantwortlich war, wurde es von uns in der Regel auch als Erstes zur Rechenschaft gezogen. Damit hatte dann eine Gesellschaft für einen Moment keine eigene Geschäftsführung mehr, sodass wir selbst in der operativen Geschäftsführung die Verantwortung übernahmen. Erst wenn die ersten Restrukturierungsphasen erfolgreich beendet waren und die Gesellschaft sich dem Tagesgeschäft näherte, sahen wir uns nach neuen Geschäftsführern um, die die Gesellschaft in die Zukunft führen und einen harmonischen Übergang im Falle des Verkaufs an einen Dritten sicherstellen sollten. Bei der Langheinrich hatte Hans Wehrmann so einen, wie wir fanden, jungen, dynamischen und ehrgeizigen Manager, Herrn Gerd Roth52, gefunden, den wir auf einer Betriebsversammlung der versammelten Belegschaft präsentieren wollten.
Als es also so weit war, betrat Herr Roth mit elegantem Schwung die Bühne. Doch bevor er ein einziges Wort herausbekommen hatte, geschah Merkwürdiges. Sein Gesicht lief zunächst rot an, die Augen traten aus dem Kopf heraus, sein Mund öffnete sich, aber statt etwas zu sagen, quollen nur Töne hervor, die an einen schlechten Alienfilm erinnerten. Ein Raunen ging durch den Saal. Seine Arme begannen windmühlengleich zu rudern, die Wiederholfrequenz der Alientöne nahm ständig zu, bis nur noch kurze, schnelle Schnappgeräusche zu hören waren. Dann, wie ein gesprengtes Hochhaus, bewegte er sich, Haltung wahrend, aus der Vertikalen und schlug mit gestrecktem Körper auf der Rednertribüne auf. Dann war es leise. »War’s das? Brauchen wir einen neuen Geschäftsführer?« schoss es mir wenig pietätvoll durch den Kopf. Doch der Betriebssanitäter konnte Entwarnung geben. Hyperventilation aufgrund der Aufregung. »Na, super«, dachte ich.
Um es vorwegzunehmen, die GG Langheinrich entwickelte sich unter der Führung von Hans Wehrmann prächtig. Die Umsätze stiegen von Jahr zu Jahr an und im Jahr 2000 gelang es, die Gesellschaft an den Textilkonzern von Hans Daun zu verkaufen, der die Firma fortführte. Noch heute produziert Langheinrich am Standort Schlitz hochwertige Tisch- und Flachwäsche.
Ich jedenfalls lernte aus dem Fall Langheinrich und dem Flusenflug, dass auch die tollste interne Expertise sich am gesunden Menschenverstand messen lassen muss, und dass lange Zugehörigkeit zu einer Branche häufig nicht förderlich ist, sondern im Gegenteil, zu einem Tunneldenken führen kann, in dem für Neues kein Platz mehr ist. »Flusenflug« wurde bei uns zu einem geflügelten Wort für all die Fälle, in denen uns ein Branchenexperte wieder unsinnige Branchenregeln als letzte Wahrheit verkaufen wollte. Mein ökonomisches Selbstbewusstsein hatte durch diesen Fall enorm zugenommen. Wir hatten uns gegen alle, gegen die ganze Industrie mit unserer Meinung durchgesetzt und recht behalten!
Was ich aber auch lernte, war, dass die schönsten Erfolge dann erzielt werden können, wenn in einer Branche alle Wettbewerber einer unsinnigen Branchenregel anhängen. In einem solchen Umfeld die Karten neu zu mischen, entfesselt disruptive Energien.
46Name geändert.
47Name geändert.
48Garnfärbeverfahren: gefärbte Garne werden zu Stoff gewebt; Stückfärbeverfahren: ungefärbte Garne werden zu Stoff gewebt, erst danach erfolgt die Färbung.
49Tender (engl.): Ausschreibung.
50Eine steuerliche Besonderheit, die die steuerfreie Ausschüttung ermöglichte, wie bei brw in Kassel und Berg in Mannheim.
51Eines der weltweit führenden Beratungsunternehmen.
52Name geändert.
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