Flusenflug. Peter Maria Löw
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Sure 27 Vers 18 3
1Turnaround (engl.): Wirtschaftliche Kehrtwende von einer Verlustsituation zur Profitabilität.
2Disclaimer (engl.): Erklärung des Haftungsausschlusses.
3Unabhängige Übersetzung.
Die Ameise
Es war zunächst nur ein kaum wahrnehmbares Zittern im Sand. Das kleine runde Steinchen, keinen Zentimeter im Durchmesser, erbebte ganz sachte. Dann war wieder Ruhe. Unmerklich begann es nun zu wippen, vor und zurück, immer mehr und immer weiter, bis, ja, bis die Bewegung in ein leichtes, holpriges Rollen überging. Auf einmal lag es wieder ruhig, das zackige Kügelchen. Eine trügerische Ruhe. Hinter dem Steinchen erschien eine winzige, umso emsigere Ameise, viel kleiner als der für sie eigentlich zu riesige Stein. Den Hals reckend spähte sie über den Kiesel, als wolle sie die vor ihr liegende Wegstrecke vermessen, die »Unterkiefer« in dauernder, fast gleichmäßiger Bewegung, wie ein wissenschaftliches Werkzeug, ein Metronom. Mit vollem Körpereinsatz stemmte sie sich schließlich gegen den übermächtigen Fels. Wieder setzte das rhythmische Wippen ein und erneut rollte der Stein eine ganz kleine Weile. Was wie das Werk eines Sisyphos anmutete, entpuppte sich als durchaus zielstrebiger Versuch dieses kleinen Wesens, etwas in dieser Welt vollbringen zu wollen. Was beabsichtigte diese Ameise, was bildete sie sich eigentlich ein? Ich spürte ob der Hybris etwas wie Wut in mir aufsteigen. War die Aufgabe nicht viel zu groß, der kleine Körper viel zu schwach? Hieß es nicht »Schuster, bleib bei deinem Leisten«? Kam Hochmut nicht immer vor dem Fall? Und dann diese Ameise, ich konnte einfach meinen Blick nicht von ihr lassen.
Eine zweite Ameise gesellte sich hinzu. Mit vereinten Kräften wurden jetzt die Bewegungen dynamischer. Das Steinchen hatte bereits ein Mehrfaches seiner Größe zurückgelegt. Mein Blick schweifte anerkennend über den Boden und entdeckte erst jetzt die unscheinbare, schier endlose Ameisenstraße. Wie ein Äderchen führte sie in die Ferne aus dem Biergarten des Nockherbergs hinaus und weiter in eine unbekannte Welt mit einem unbekannten Ziel. Die zwei Ameisen waren auf einmal viele, alle gemeinsam unterwegs, die Welt ein wenig zu verändern.
Die Anfänge oder Vom volkswirtschaftlichen Nutzen eines Biergartens
Unzählige fröhliche Stimmen schwirrten durch die Schwüle dieses Märznachmittags am Ende der Fastenzeit. Der Nockherberg war zu dieser Jahreszeit ein ganz besonderer Ort. Hier versammelten sich die »echten« Münchner an den Tagen nach dem Starkbieranstich bis zum Beginn der Karwoche am Palmsonntag. Der Andrang war, wie in den Jahren zuvor, groß. Überall regte sich etwas. Schon von Weitem sah, hörte und roch man die gute Laune dieses außergewöhnlichen Ortes. Mein Blick schweifte gelassen umher.
Ein junger Mann trug auf einem wackligen Stuhl stehend etwas wie ein Gedicht vor. Eine alte Frau führte den schweren, steinernen Bierkrug mit leicht zitternden Armen zum Mund. Und eines Teils seiner Last entladen bewegte sich der Humpen der Schwerkraft folgend zum Tisch zurück, nicht ohne ein seliges Lächeln im Gesicht der Alten zu hinterlassen. Vom Spielplatz her tönten die Schreie, die nur von spielenden Kindern erzeugt werden können, und die für alle, die Kinder haben, wie reine Musik trotz oder gerade wegen aller ihrer Dissonanzen klingen und künden: die Kinder sind glücklich! Eine Gruppe Jugendlicher hatte wie eine Kriegsbeute einen vollen Maßkrug ergattert und fiel wolfsrudelgleich darüber her. Ein Tisch war von einer reinen Damengruppe belegt, die die prüfenden Blicke der strammen Burschen sichtlich genoss und durch fröhliches Gekichere und absichtsvolle Tapsigkeit nur noch mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen suchte.
Dann setzte die bayerische Blasmusik wieder ein, dabei die feschen Mannsbilder in Lederhosen mit Stutzen und grünen Westen ohne ihre Janker, jeder einen fast tellerförmigen Hut auf dem Kopf, darauf einen weißen Adlerflaum, der sich gen Himmel reckte. Die Marschmusik dröhnte ein wenig, doch die Gespräche an den Tischen hörten jetzt nicht etwa auf, lediglich die Lautstärke der Konversation nahm zu. Jeder schien jetzt etwas Wichtiges sagen zu müssen, begleitet von dem Brummen der Tuba und dem Tirilieren der Klarinetten. Alle Töne vermischten sich zu einem undurchdringlichen Geräuschdschungel. Dazu die vielen Menschen, die kamen oder gingen, die Bekannte begrüßten oder Freunde verabschiedeten, sich am Mandelstand etwas für ihre Liebsten besorgten, Kinder betreuten oder Alte stützten. Das allseitige Gewimmel erinnerte sehr an des »Volkes wahrer Himmel«. Zufrieden jauchzten hier hörbar Groß und Klein: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«4.
Vom Ausschank dampfte die kräftige Kellnerin heran. Mit zehn Maß Bier in den Händen wirkte der stampfende Gang wie das Tapsen eines Zyklops. Von links nach rechts torkelnd spritzte bei jedem Schritt ein wenig der Hopfengischt aus den Krügen. Der gekieste Boden, so fuhr es mir durch den Kopf, war nur für sie geschaffen, damit nicht jeder der wuchtigen Schritte den ganzen Biergarten erbeben ließ, sondern die wilden Kräfte sich in das nachgiebige Kiesbett ableiteten. Doch wie änderte sich das Schauspiel, als sich die Mamsell der Ameisenstraße näherte. Wie einst der weise König Salomon5 oder doch besser wie eine Balletttänzerin hob sie vorsichtig ihr Bein, um mit einer nicht zu erwartenden Eleganz über die dünn hin- und herwieselnden Tierchen zu schreiten. Leben und leben lassen! Mit einem gewaltigen Krachen setzte sie ihre schwere Last endlich auf unserem Tisch ab, um sich mit ihrem fleischigen Unterarm erst einmal den Schweiß aus dem Gesicht abzuwischen. Dann, mit einem kraftvollen Schwung, lupfte sie die Krugsammlung wieder, um mit pirouettenhafter Bewegung zu enteilen, nicht ohne zwei schaumgekrönte Exemplare auf unserem Tisch zu hinterlassen, Relikte, die sich hier munter zu den vier bereits geleerten Krügen gesellten.
Es war ein wirklich schöner, warmer Nachmittag. Die Fastenzeit, die mit dem Aschermittwoch begonnen hatte und mehr als vierzig Tage bis zum Osterfest dauern sollte, neigte sich dem Ende zu. Natürlich hatten auch wir unsere Fastengelübde abgelegt und einen kleinen Verzicht mit dem lieben Gott vereinbart. Das bedeutete auch: keinen Alkohol. Doch als schlaue Juristen, als welche wir zwei Herren Rechtsassessoren uns wähnten, hatten wir im Vorfeld bereits gut verhandelt. Für einen Tag in der Fastenzeit, so hatten wir dem lieben Gott vorgeschlagen, nur für einen einzigen Tag in der Fastenzeit hatten wir vorab einen Dispens erbeten, einen Tag, an dem wir etwas Alkoholisches trinken durften. Aber dann natürlich auch nur etwas, was die Mönche zum Fastengetränk erhoben hatten, das Fastenbier, der Salvator, natürlich dem Höchsten, dem Retter der Menschheit zur Ehre. Dagegen, da waren wir uns sicher, hatte auch der liebe Gott nichts einzuwenden, er war ja einer von uns. Und dieser Tag des Fastenbrechens war heute.
Da saßen wir nun im April des Jahres 1992 zusammen mit den zwei vollen und den vier leeren Humpen, die aus unerklärlichen Gründen noch nicht abgeräumt waren, so als wollten sie neugierig dem beiwohnen, was noch alles geschehen sollte.
Dem Alkohol kann man zu Recht viele nachteilige Eigenschaften zuschreiben und man kann nicht genug davor warnen. Ohne Zweifel führt ein zu großer Konsum zu schweren gesundheitlichen Folgen. Dennoch, wenn Hemmungen fallen, der Mensch seine Wälle verliert, die er zum Schutz des eigenen Selbst aufgerichtet hat, dann führt der Genuss manchmal auch dazu, dass das Innerste freigelegt wird, dass der Mensch zu sich findet und das sagt, was er schon immer sagen wollte, was bis dahin aber hinter Verhaltensbergen und Regelabgründen verborgen gewesen war. Viele wollen den Weg zu sich selbst über Yoga oder Meditation finden, und manche finden ihn dort vielleicht auch, doch die gewonnene Erkenntnis bleibt meist ungesagt, ist ein Geschäft, das man nur mit sich alleine abschließt. Der geniale Gedanke verrinnt, ohne dass er geäußert wird, ohne dass er vom anderen aufgenommen, weitergesponnen und gemeinsam zu etwas Besonderem gemacht werden kann.
Martin