Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger
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Plötzlich hatten alle Zeit. Zeit für sich, für die Familie, für Freunde, für Nachbarn. Eine Höflichkeit im Umgang miteinander war nicht Ausnahme, sondern fast schon Regel. Und die Menschen taten Dinge, die sie nach eigenen Aussagen, Jahre oder gar Jahrzehnte aufgeschoben hatten. Sie schlenderten durch die Natur, bastelten mit den Kindern oder suchten am Dachboden nach Juwelen.
Im letzten Kapitel soll darauf auch näher eingegangen werden, nicht auf die schreckliche COVID-19-Pandemie an sich, aber auf das, was dieser erzwungene Rückzug, der verordnete Stillstand, in uns allen ausgelöst hat.
Die Frage „Wozu das alles?“ – und damit wieder zurück zum ursprünglichen Sinn dieses Buches – erlebt seit Ende des vorangegangenen Jahrhunderts eine Renaissance. Zunächst in der Glücksforschung. In immer mehr Ländern wurde und wird versucht, mittels viel zu langer Fragebögen das Lebensglück zu erfragen, stets gipfelnd in der Parole: „Wir müssen Bhutan werden.“ Das buddhistisch gelenkte Königreich am Rand des Himalaya gilt weithin als weltweites Zentrum des Glücks, und seit den 1960er-Jahren wird das Bruttonationalglück in diesem Land in der Verfassung festgeschrieben. Sinngemäß heißt es dort: Nur eine Regierung, die für ihr Volk Glück schaffen kann, hat eine Existenzberechtigung. Tut sie das nicht, hat sie keinen Grund, zu regieren.
Auch die Ratgeberliteratur sprengte alle Rahmen des großen Glücks, das in nicht immer seriösen Varianten auf Zehntausenden Seiten niedergeschrieben wurde.
Doch dann ging dem Glück die Luft aus.
Glück sei nicht alles im Leben, warnten plötzlich die Philosophen. Ein Berufszweig, der Jahrzehnte geschwiegen und sich in die Denkerzimmer der theoretischen Philosophie, meist in Universitäten, zurückgezogen hatte, wagte sich wieder an die breite Öffentlichkeit. Die Philosophie erlebt in ihrer Ausprägung der praktischen Philosophie seit einigen Jahren ein unglaubliches Comeback. Ob die aus Deutschland stammenden Richard David Precht, Wilhelm Schmid, Albert Kitzler, Rüdiger Safranski, ob die Österreicher Robert Pfaller oder Konrad Paul Liessmann oder der Schweizer Philosoph Peter Bieri, ihnen allen geht es nicht mehr ums Glück allein. Es ist „das gute Leben“, das thematisch ihre an Universitäten allerdings sehr kritisch beäugten Publikationen dominiert, wie auch das seit Jahren in Frankreich und dann auch in Deutschland erscheinende Philosophie Magazin und andere neue Philosophie-Schwerpunkte in Zeitungen meist die „Lebenskunst“ in den Mittelpunkt stellen.
Was ist ein „gutes Leben“?
Eine der ältesten Fragen der Philosophie. Älter ist nur die Frage: Was ist der Sinn von allem?
Die Antwort ist so einfach wie banal: Weise leben.
Und das Schöne daran. Es ist schon alles gedacht. Vielleicht nicht wirklich alles. Aber fast alles. Zum Teil vor dreitausend Jahren.
Braucht es also neue Weisheiten? Nein, sagt der Philosoph Albert Kitzler: „Denn die Funktionsweise unserer Seele ist in den letzten 3000 Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben.“1 Keiner von uns müsse das Rad immer wieder neu erfinden (wobei dieser Spruch erst rund 40 Jahre alt ist, das Rad selbst mindestens fünf Jahrtausende), man müsse auch die Lebensweisheiten nicht immer neu erdenken.
In diesem Buch soll es deshalb auch, oder vielleicht vor allem, um die vielen kleinen und großen Ideen und Anregungen weiser Menschen gehen, die manches im Leben im wörtlichen Sinne leichter machen könnten. Die Philosophie bekommt im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer stärkeren Rückenwind auf ihrem Weg in die immer mehr von Unzufriedenheit geprägte menschliche Gedankenwelt. Und das ist gut so. Nein, nicht das gedankliche und zu oft verbalisierte Raunzen, sondern die Befassung der modernen Philosophie damit – im Gewand der praktischen Philosophie, jenem Teilbereich der Philosophie, wie ihn Aristoteles geprägt hat. Es soll also um die konkrete Anwendung von Philosophie gehen in Fragen der Ethik, des Rechts, der Politik, auch der Ökonomie und der Medizin. In der Volkswirtschaftslehre sagen die sogenannten neoklassischen Professoren – in ihrer politischen Ausformung: die Neoliberalen –, dass man mikroökonomische Betrachtungen, wie wir sie eben getroffen haben, auf die Makroökonomie übertragen könne. Denn so wie sich der Homo oeconomicus, der stets rational handelnde Modellmensch in der Gleichgewichtswirtschaft, auf den Märkten bewege, so könne man das auch auf eine gesamte Volkswirtschaft umlegen. Oder weniger ökonomisch formuliert: So wie die Leute sind, so funktioniert dann auch ein ganzer Staat.
Dass das nicht stimmt, haben viele Wirtschaftswissenschaftler und Denker aufgezeigt und gut begründet. Der Wichtigste unter ihnen: John Maynard Keynes. So sei etwa ein Sparparadoxon auszumachen. Spart ein Mensch, so mag das für ihn gut sein, weil ihm in der Zukunft mehr Geld für eine geplante größere Anschaffung zur Verfügung steht. Sparen jedoch plötzlich alle, also die Wirtschaftsteilnehmer eines gesamten Landes, geht der Gesamtkonsum dramatisch zurück und damit das gesamte Volkseinkommen. Dann fallen beide – der Gesamtkonsum und die Gesamtersparnis.
Steht jemand in einer Theatervorstellung mitten im Zuschauerraum plötzlich auf, ist es gut für ihn, weil er dann besser sieht. Machen das alle, sehen alle schlecht.
Um diese Betrachtungen von John Maynard Keynes soll es in diesem Buch aber nicht gehen. Ich möchte vielmehr der Frage nachgehen, was wir aus der Sinnforschung und aus der Weisheitsforschung nicht nur für den Einzelnen lernen können, sondern auch, welche Antworten sich vor allem für die Politik ergeben könnten.
Und schon lande ich neuerlich bei John Maynard Keynes, denn schon acht Jahre vor seinem Hauptwerk „The General Theory of Employment, Interest and Money“ hat er 1928 in Cambridge eine sehr bedeutende und in den letzten Jahren oft zitierte Rede über eine mögliche Welt in hundert Jahren gehalten. Daraus wurde 1930 eine Vorlesung mit dem Titel „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, die im Oktober desselben Jahres in zwei Folgen in der Zeitschrift The Nation and Athenaeum abgedruckt wurde.
Die Prognosekraft dieses kleinen Essays ist unglaublich und beeindruckend. Zwei Aussagen gleich vorweg: Der Lebensstandard 2030 werde bis zu achtmal so hoch sein wie heute (also damals, 1930) und wegen des rasant ansteigenden technischen Fortschritts werde man in der Lage sein, alle Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Produzierenden Gewerbe mit „einem Viertel der menschlichen Anstrengungen von heute“ durchzuführen. Auch dann, wenn diese hohe Geschwindigkeit die Menschen schmerzen werde. Man sei schon heute „von einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Leser möglicherweise noch nicht gehört haben, von der sie aber in den nächsten Jahren noch viel hören werden, nämlich der technologischen Arbeitslosigkeit“2. Damit meinte der Ökonom, Mathematiker, Politikberater und Politiker im Jahre 1930 (!) jene Arbeitslosigkeit, die entsteht, „weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendungen für Arbeit zu finden“3.
2030 werde laut Keynes das weltwirtschaftliche Problem im Großen und Ganzen gelöst sein, und die Menschen könnten sich der Muße und Freizeitgestaltung hingeben. Ganz konkret prognostizierte der Philosoph, der Keynes auch ist, eine Drei-Stunden-Schicht als täglich notwendige Arbeitszeit oder eine 15-Stunden-Woche.
Ich denke, das wird sich nicht mehr ganz ausgehen – bis 2030.
Was uns aber nicht daran hindern soll, schon heute die Frage zu stellen – und zwar unabhängig davon, ob wir irgendwann 21 oder viele von unseren Kindern und Enkeln 24 Stunden in der Woche arbeiten und den Rest „arbeitslos“ zu befüllen haben: Was genau hat denn dann SINN? Welche Handlungen geben uns einen Lebenssinn? An dieser Stelle sei die nicht sehr sinnvolle Übersetzung von „That makes sense“ mit „Das macht Sinn“ erwähnt, nicht nur weil es schlicht und einfach falsches Deutsch ist. Sinn ist nicht machbar. Nicht erzeugbar.
Eine Tätigkeit