Selbstverständlich ist nichts mehr. Hans Bürger

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Selbstverständlich ist nichts mehr - Hans Bürger

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von Armut und Reichtum ist es vorbei. Und der „Erfinder“ und Begründer der Ökonomie als Wissenschaft, der Schotte Adam Smith, unterscheidet erstmals zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Blickt man in die griechische Antike zurück, fallen genau die damals hochgeschätzten „Tätigkeiten“ bei Smith hinab ins weitgehend unproduktive Nichts: politisches Engagement, Beamte, religiöse Gelehrte, auch das Militär und ganz besonders all jene, die danach trachteten, das Volk zu unterhalten: Schauspieler, Sänger, Musiker, Artisten und alle anderen, denen es damals nicht vergönnt war, ihre Künste auszuüben.

      Den Tiefpunkt erlebt die Arbeit aber erst im Nationalsozialismus. Der internationale Tag der Arbeiterbewegung wird mit 1. Mai 1933 zum Tag der nationalen Arbeit. Zeitgleich werden die freien Gewerkschaften zerschlagen.

      Aber es sollte noch viel entsetzlicher kommen. Als Aufschrift auf den Eingangstoren der nationalsozialistischen Konzentrationslager stand der Satz: Arbeit macht frei. Der Tiefpunkt für den Wert der Arbeit – ein Höhepunkt an Zynismus und menschlicher Entwürdigung. Ist die Arbeit im Werteranking des Menschen 2020 gegenüber dem 17. Jahrhundert dramatisch abgestürzt?

      Nicht wirklich.

      Ist im Gegenteil nicht nach wie vor

       nichts als Arbeit?

      „Heute haben wir keine andere Zeit als Arbeitszeit“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Den Maschinen des Industriezeitalters seien die neuen, Zwang und Sklaventum hervorbringenden, digitalen Apparate gefolgt. Die dadurch entstandene völlige Mobilität hat dafür gesorgt, dass wir den Arbeitsplatz überall vorfinden. Da Muße dort beginnt, wo Arbeit aufgehört hat, muss Erstere notwendigerweise verschwinden.

      Cogito ergo sum. Wirklich? Oder doch nur noch laboro ergo sum?

      Bin ich dann aber auch?

      „In seiner Arbeit aufgehen“ kann dann eine radikale Bedeutungswende erfahren.

      Wenn wir die Worte des Zweiflers schlechthin, des französischen Philosophen René Descartes, so auslegen, wie er sie tatsächlich gemeint hat, dann sind wir eigentlich nicht. Denn Descartes wollte mit ego cogito, ergo sum, wie es vollständig heißt („Ich denke, also bin ich.“), nichts weniger, als seine eigene Existenz beweisen, konkret seine Existenzfähigkeit.

       Der Wert der Arbeit

      Heute ist die Arbeit ein Beweis für Existenz. Wer nicht arbeitet, ist nicht.

      In sich schon. Aber nicht im sozialen Netz der Vergleichspersonen. Mehr Einkommen lässt uns mehr Prestigegüter kaufen. Die gesellschaftliche Achtung steigt. So wie die Ächtung für jene, die nichts zu zeigen haben, weil sie vielleicht die Arbeit losgeworden sind. Unfreiwillig. Arbeitslos.

      Arbeit gibt Prestige. Dessen Aufwertung zur Sinnstiftung bedarf keiner großen Schritte mehr. In diesem Fall könnten wir also formulieren: Arbeit macht Sinn.

      Mehrarbeit macht demnach nicht nur mehr Sinn, sondern bringt auch ein höheres Einkommen. Und diese Mehrarbeit macht der Arbeitende selbstverständlich freiwillig. (Achtung Ironie.) Der Philosoph Nils Markwardt bringt es auf den Punkt: „Überstunden werden jetzt nicht mehr paternal verordnet, sondern die Kollegen werden vom jovialen Chef mit dem Verweis auf Teamspirit des gemeinsamen Projekts freiwillig zum Bleiben gebracht. Die Pointe: Der permissive Befehl ist viel stärker als der andere, weil ja der Chef mich nicht zur Arbeit gezwungen, sondern lediglich zur Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit gebracht hat.“10

      Die deutsche Fernsehjournalistin Fabienne Hurst widmete sich in einer Reportage dem verordneten Glück durch Unternehmen, nennen wir es „Motivation Total“, und beschreibt, was in einer deutschen Bäckerei so abgeht.

      In dieser Bäckerei herrscht „Corporate Happiness“. Nicht mittels höherer Löhne, sondern durch Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie. Am auffälligsten ist das seit Jahren so beliebte Gummibändchen am Handgelenk zur Anbringung diverser Botschaften. Auf dem Bändchen der Bäckereimitarbeiter steht: „Stop complaining“. Also: „Hör auf, dich zu beschweren.“ Oder ins Österreichische übertragen: „Sudere nicht!“

      „Ein Bändchen auf dem Weg ins Glück“, kommentiert es die Redakteurin des Beitrages. Aber laut Firmenphilosophie soll das Bändchen nicht tagaus, tagein am Handgelenk herumhängen, sondern dumme Gedanken am Arbeitsplatz verhindern. Das alles ist kein Scherz. Tatsächlich sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgefordert, das Bändchen auf das andere Handgelenk zu geben, wenn man sich über etwas aufgeregt oder beschwert hat. Ziel ist es, das Bändchen 21 Tage lang am selben Handgelenk zu tragen. Und zwar 21 Tage in Folge. Das bedeutet dann, dass man sich drei Wochen lang über nichts aufregen oder beschweren musste. Die Idee stammt von einem früheren Finanzmanager und heute – auch von der Großbäckerei – gut bezahlten „Erfolgs- und Glückscoach“.

      In diesem Unternehmen können auch „Happiness“-Punkte gesammelt werden. Mehr Punkte bedeuten einen höheren Rang im Glücksranking der Firma. Natürlich kann man seinen Kontostand schon mal ordentlich aufbessern, wenn man – im Sinne des Firmenglücks – ab und an mal bis 22:00 Uhr noch Dinge erledigt. Schließlich gilt es, den Führenden im Glücksranking vielleicht heuer doch noch einzuholen.

      Moderne Erpressung? Aber nein! Einfach ehrliche Motivation durch den so einfühlsamen Vorgesetzten. Wichtigste Zutat laut Fabienne Hurst: „Die Mitarbeiter sollen nicht merken, dass sie zielgerichtet motiviert werden.“11

      Auch Nils Markwardt sieht das gleichermaßen: „Die vermeintliche Freiwilligkeit ist ein unglaublich effektives, aber unter Umständen auch perfides Instrument der Führung … denn Selbstführung produziert ja relativ wenig Widerstand, weil die Leute oft nicht merken, dass sie geführt werden – oder weil sie es selbst wollen … In dem Moment, wo Mitarbeiter Freunde oder sogar eine Art Familie sind, fällt auch so ein gewisser Spielraum weg, ‚Nein‘ zu sagen.“12

      Anerkennung ist nicht Selbstverwirklichung. Vielleicht auf den ersten Blick. Wer heute mit dem Zug fährt, sieht viele Pendler in Arbeit vertieft. Texte schreibend, Mails beantwortend. Ähnlich im Flugzeug, wenn es sich nicht gerade um einen Ferienflieger handelt. Die Laptop-Benutzer wirken angespannt und ernst. Nicht wirklich glücklich. Aber auch nicht unglücklich. Man fragt sich, gehen diese Leute gerade in sich auf oder verfehlen sie sich gerade? Oder wissen und spüren sie nicht mehr, ob ihnen das, was sie machen, auch inneren Lebenssinn bereitet.

      Wenn etwa der Vorgesetzte anweist: „Gehen Sie doch in den Randzeiten zum Arzt“, dann ist das natürlich sein gutes Recht, aber die ausgesprochene Botschaft ist größer und versteckt sich im Wort Randzeit. Hauptzeit ist Arbeitszeit. Hauptlebenszeit ist Arbeitszeit.

      Arbeit – die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Warum eigentlich? Zur eigentlichen Sinnfrage kommen wir erst später, aber eine Vermutung des kanadischen Philosophen Mark Kingwell sei schon an dieser Stelle angeführt. Kingwell fragt sich, warum sich Arbeit als etwas Unvermeidliches präsentiert und gleichzeitig unter Verwendung eines Netzes von Finten und bestimmten Arbeitgebermethoden auch als etwas Angenehmes. Der wichtigste Effekt ziele auf die Verbreitung der Gewissheit ab, dass Arbeit grundsätzlich notwendig sei. „Jeder akzeptiert, dass jeder einen Job haben muss, weil er weiß, dass er einen Job haben muss.“13 Arbeit bringt Ansehen. Mehr Arbeit noch mehr Ansehen.

      „Hatte Jahwe einst den Menschen mit lebenslanger Arbeit für den Sündenfall bestraft, scheint die Arbeit für uns heute selbst der Himmel auf Erden zu sein“14, schreibt die Philosophin

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