Die Residentur. Iva Prochazkova
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Er ließ den Motor wieder an. Ihm fiel ein, dass er immer noch die Brille aufhatte. Die benutzte er als Accessoire zu Johnnys Gesicht. Damit sie glaubwürdig wirkte, hatte sie optische Gläser, zwar schwach, aber über längere Zeit da durchzuschauen, machte müde. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Noch ehe er auf die Landstraße zurückfuhr, überlegte er kurz, ob er auf dem Heimweg Musik hören oder lieber ein paar Telefonate erledigen sollte. Schließlich entschied er, dass es am nützlichsten wäre, mit seinem Konversationskurs weiterzumachen, den er sich aufs Handy geladen hatte. In letzter Zeit büffelte er bei jeder passenden Gelegenheit Deutsch und seiner Lehrerin zufolge machte er Fortschritte. Wenn er nicht nachließe, konnte er hoffen, dass sich ihm bald neue Möglichkeiten eröffnen würden. So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du Mensch, hieß es doch.
Er griff nach seinem Telefon und ging in die Audiothek. „Gefällt es Ihnen in Berlin? Leben Sie hier?“, fragte eine Frauenstimme. „Berlin ist wunderbar“, antwortete er und achtete dabei peinlichst auf eine korrekte Aussprache. Akzentfreies Hochdeutsch. „Ich bin beruflich hier. Meine Arbeit führt mich immer wieder an neue, interessante Orte.“
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Auch nach einem halben Jahr treten die Ermittlungen zum gewaltsamen Tod von Geworg Arojan auf der Stelle. Den vermuteten Auftragsmord hat die Polizei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Morde an Journalisten sind überall auf der Welt zu einem Bestandteil einer Einschüchterungstaktik im Kampf um Einfluss, Macht und Geld geworden. Europa kann sich allein in den letzten zwei Jahrzehnten mit bereits 45 Fällen von ermordeten Journalistinnen und Journalisten „brüsten“, wobei es trotz Überführung der Täter bei den meisten nicht gelungen ist, die Personen zu enthüllen, die sich tatsächlich hinter den Verbrechen verbergen.
Kommt gut mit Krisensituationen klar. Geht Problemen nicht aus dem Weg. Zielstrebig. Beharrlich. Von derartigen Charakterisierungen wimmelte es nur so in Štěpán Chytils Arbeitszeugnissen. Im Prinzip pflichtete er ihnen bei. Er besaß die Eigenschaften eines ausdauernden zweikeimblättrigen Unkrauts. Er war unverwüstlich wie Klee. Auch ein kalter Tag, der nach Auspuffgasen und dicht am Boden verharrendem Rauch stank, ein außerordentlich scheußlicher Märzmontag ohne die geringste Aussicht auf Sonne, konnte den stellvertretenden Direktor des Amts für Ein- und Ausfuhrkontrolle und EU-Parlamentskandidaten (verheiratet, Vater eines gerade volljährigen Sohnes, schütter werdendes Haupthaar, leicht erhöhter Cholesterinspiegel) nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Seit dem Morgen hatte er Halsschmerzen und alles, was er berührte, wirkte provozierend schleimig, als wäre die Welt mit dem Sperma eines starken feindlichen Männchens bedeckt. Trotz alledem wurde er die Überzeugung nicht los, dass die irdische Existenz das Beste war, was der Kosmos zu bieten hatte. Die Existenz als privilegiertes menschliches Wesen. So ein Wesen war Štěpán, und mit seinen vierundfünfzig Jahren hatte er nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass sich irgendetwas verändern würde.
Als Ökonom kannte er natürlich das Pareto-Prinzip und wandte es erfolgreich in seinem Beruf an. Er war in der Lage zu berechnen, welche Menge an Energie er in was investieren musste und welche Zinsen ihm das einbrächte. Nie hatte er sich die Frage gestellt, ob die 80-zu-20-Regel auch außerhalb der Arbeit galt. Die Behauptung, dass 80 % der Folgen auf 20 % der Ursachen beruhen, und zwar auf allen Ebenen menschlichen Handelns, hätte er als nicht verifizierbare Theorie abgelehnt. Sich mit solchen Gedankenkonstrukten zu befassen, hielt er für überflüssig. An der Vergangenheit ließ sich nichts mehr ändern. Man konnte sie nicht ungeschehen machen und auch nicht wieder in sie zurückkehren. Die Ursachen waren bereits entstanden. Sie waren fest in Štěpáns Schicksal verkeilt und er, versunken im Rücksitz eines Wahlkampf-Vans der ČMD, der Tschechisch-Mährischen Demokraten, rückte auf der Zeitachse in Richtung der logischen Folgen vor. Langsam, aber unaufhaltsam.
„Wohin?“, fragte der Chauffeur.
„In die Zentrale“, schlug Milada Pecková vor.
„Da wird keiner sein“, vermutete Libor Fára. „Fahr direkt zum Vereinshaus.“
Štěpán sah auf die Uhr: halb eins. Znojmo – Qualitätsstadt mit Prädikat, verkündete das schlammbespritzte Ortseingangsschild, das sie gerade passierten. Es fiel Schneeregen, auf der Fahrbahn hatte sich Glatteis gebildet. Nach dem warmen Februar war der Rückfall in den Winter ärgerlich, aber Štěpán hatte keine Zeit, darauf zu achten. Er konzentrierte sich voll auf seinen Wahlkampf. Die Tour durch Mähren war ein wichtiger Teil davon. Die morgendliche Veranstaltung am Gymnasium in Humpolec hatte in inspirierender Atmosphäre stattgefunden, das Schulorchester hatte die Ode an die Freude gespielt und die zahlreichen Fragen ließen vermuten, dass die Schüler um gute Noten in Gesellschaftskunde kämpften. Viele von ihnen – höchstwahrscheinlich aus dem Abschlussjahrgang – hatten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Fokus, insbesondere die Meinungsfreiheit. Sie wollten wissen, woher Štěpán seine Informationen bezog, was er von Online-Medien und von Bloggern hielt. Sie testeten, ob er bestimmte Namen und Portale kannte. Natürlich kam die Sprache auch auf Geworg Arojan und sein tragisches Ende. Die Studenten verglichen ihn mit dem ein Jahr zuvor ermordeten slowakischen Journalisten Ján Kuciak und fragten Štěpán, ob die beiden seiner Meinung nach dafür zahlen mussten, dass sie keine Angst gehabt hatten, die Wahrheit zu schreiben. Auch Štěpáns Ansichten zur Selbstzensur interessierte sie.
Er antwortete wohlüberlegt. Wies sie auf die Fallstricke der Freiheit im Internet hin und auf die Wichtigkeit einer journalistischen Ethik. Erläuterte ihnen, dass die sogenannte Selbstzensur manchmal auch ein Bemühen um Objektivität sein konnte. Als sie ihn fragten, wie er sich mit seinem Sohn verstünde, versicherte er, dass sie ein gutes Verhältnis hätten. Er verriet ihnen, dass er mit Richard oft diskutiere und in regem Meinungsaustausch stehe. Dass sie vor ein paar Tagen ein paar Ohrfeigen ausgetauscht hatten, darüber schwieg er vernünftigerweise.
Die anschließende Versammlung in der Stadtbibliothek war vom Klub aktiver Senioren organisiert worden, der Altersdurchschnitt im Publikum bewegte sich um die achtzig Jahre und die Konzentrationsfähigkeit war dementsprechend. Viele Augenpaare, in die Štěpán von seinem Rednerpult aus schaute, schlossen sich im Verlauf seines Auftritts. Hier und da war auch ein Schnarchen zu hören. Das war auch an den vorausgegangenen Tagen in Jihlava, Třebíč und Kounice nicht anders gewesen. Der älteren Generation wurde bei Wahlen eminente Wichtigkeit beigemessen, sie machte ein Viertel aller Wahlberechtigten im Land aus. Pecková und Fára hatten vom ČMD-Wahlkampfmanager die Anweisung bekommen, sich bei den Veranstaltungen für die Silver Ager besonders große Mühe zu geben, aber Štěpán wurde den Eindruck nicht los, dass das EU-Parlament eine Institution war, die den Denkmustern mährischer Greisinnen und Greise zuwiderlief. Der Hauptgrund, aus dem sie die Wahlkampfveranstaltungen in großer Zahl besuchten, war der Imbiss, der zum Schluss gereicht wurde und ihren Schlummer wie von Zauberhand vertrieb.
Hier in Znojmo würde sich die Reihe schläfriger Kaffeekränzchen nicht fortsetzen, das war Štěpán klar. Der Vorsitzende des ČMD-Ortsvereins hatte am Telefon geprahlt, dass der große Saal im Vereinshaus nicht nur voll sein werde, sondern dass auch eine hitzige Debatte auf dem Programm stehe. „Das wird für Sie kein Kinderspiel, Herr Ingenieur. Es kommen