Die Residentur. Iva Prochazkova
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Aus einem Bericht des Meinungsforschungsinstituts Horizont
Alena hörte auf, den steifen Nacken ihres Schwiegervaters zu massieren, wischte sich die fettigen Hände an einer Serviette ab und ging ans Handy.
„Chytilová.“
Auch wenn sie sich ganz ruhig meldete, reagierte ihr Herz mit erhöhter Pulsfrequenz. Sie konnte nichts daran ändern. Schon seit achtzehn Jahren versuchte sie, diesen unangenehmen konditionierten Reflex loszuwerden, aber vergeblich. Eine unbekannte Telefonnummer löste jedes Mal die gleiche automatische Antwort ihres Organismus aus.
„Ich bin’s.“ Am anderen Ende war Hankas energische Stimme.
„Von wo rufst du denn an?“
„Aus dem Lehrerzimmer.“
„Schon zurück?“, wunderte sie sich. „Wann bist du wiedergekommen?“
„Vor ein paar Minuten.“
Hanka Formánková war eine langjährige Freundin von Alena und die Mutter von Richards bestem Freund. Sie unterrichtete an dem Gymnasium, das ihre beiden Söhne besuchten. Dass sie sofort nach der Rückkehr von ihrem Seminar anrief, geschah definitiv nicht nur aus Höflichkeit, da war sich Alena sicher.
„Ist was?“, fragte sie und ging mit dem Telefon ins Esszimmer nebenan.
„Das wüsst ich selber gerne. Richard und Martin sind heute nicht hier aufgetaucht.“
„Nicht? Aber Richard hat mich doch in der Pause angerufen …“
„Nicht von der Schule aus“, unterbrach Hanka sie.
„Das hat er aber behauptet.“
„Quatsch. Geschwänzt hat der. Genau wie Martin.“
„Warum sollten sie?“
„Wahrscheinlich haben sie was Interessanteres auf dem Programm“, tippte Hanka. Sie machte sich weder über ihren Sohn noch über irgendeinen anderen Angehörigen des männlichen Geschlechts die geringsten Illusionen.
„Richard hat heute früh vor zehn angerufen. Ich hab ihn gefragt, wie sein Englisch-Test ausgefallen ist, und er hat gesagt, gut.“
„Der hat überhaupt keinen geschrieben.“
Alena schaute auf den Wandkalender, der über dem Esstisch hing, und rekapitulierte in Gedanken: Heute war Montag. Am Freitag war Hanka nach Pilsen zu ihrem Methodikseminar gefahren und Richard hatte sich bei Martin einquartiert. Martins Vater war schon seit drei Wochen auf der Suche nach sich selbst, bei irgendeiner Zootechnikerin, und es sah nicht so aus, als ob er bald an den heimischen Herd zurückkehren würde. Die Jungs hatten beschlossen, die leere Wohnung der Formáneks zu nutzen, um sich in Ruhe auf die schriftlichen Abiprüfungen vorzubereiten.
„Ich hab bei Martin mehrere Nachrichten hinterlassen, aber er stellt sich tot. Ich hab den Verdacht …“ Hanka senkte ihre Stimme. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass irgendein anderer Lehrer sie hörte. „Vielleicht waren sie aus, sie haben’s übertrieben und jetzt müssen sie ausschlafen.“
Sie spielte auf die zurückliegende Phase übermäßigen Alkoholkonsums ihrer Söhne an (die zweite Hälfte der elften und fast die ganze zwölfte Klasse), als die beiden ausgetestet hatten, was sie vertrugen. Und sie vertrugen viel – danach zu urteilen, was Alena zu Ohren gelangte und was zweifellos nur einen kleinen Bruchteil der Wirklichkeit darstellte. Richard vertraute sich ihr nicht an, und sie hatte nicht den Mut, ihn auszufragen. Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sie beim Saubermachen in seinem Zimmer ein Tütchen Gras gefunden. Sie war entsetzt gewesen, eine Weile hatte sie überlegt, was sie tun sollte. Dann hatte sie sich einen Joint gebaut, ihn im Garten geraucht und auf die Wirkung gewartet. Und die kam schnell, es war super Qualität. Sie hatte beschlossen, mit Richard zu reden. Als sie das nächste Mal allein zu Hause waren (wichtige Dinge besprach sie mit ihm prinzipiell unter vier Augen), fragte sie ihn, wie lange er schon kiffte. „Ich hab’s ein paarmal ausprobiert“, sagte er in einem Tonfall, der die ganze Angelegenheit in ein triviales Licht rückte. „Ach Ma, Experimentieren ist ein notwendiger Bestandteil der Erkenntnis.“ Sie vermutete, dass er neben Hanf und Alkohol auch noch mit allem möglichen anderen herumexperimentierte, und immer war sie wie gelähmt vor Panik, wenn er zu einem Konzert oder einer „Party“ abdampfte. Er spürte ihre Befürchtungen und versuchte, sie zu zerstreuen. „Keine Angst, ich hab das unter Kontrolle“, versicherte er ihr jedes Mal. Auf diese Versicherungen gab sie nichts; es war eher ihr Instinkt, der ihr einflüsterte, dass sie ihm vertrauen konnte, dass das nur vorübergehende Ausschläge waren, die auch wieder abklingen würden. Von klein auf trug er eine Art Keimzelle von Ernst und Verantwortungsgefühl in sich. Die Reise nach Kambodscha letztes Jahr hatte das nur bestätigt.
„Ich glaub nicht, dass sie unterwegs waren. Damit sind sie doch durch.“
Vom anderen Ende drang ein nachsichtiges Lachen an Alenas Ohr.
„Ein Kerl ist niemals mit irgendwas durch. Der will immer alles wieder von vorn ausprobieren“, versicherte ihr Hanka, die gründlich vom Verlauf ihrer Ehe belehrt worden war (vier Krisen inklusive der, die sie gerade durchmachte). „Als Richard dich angerufen hat, wie hat er sich denn da angehört?“
„Normal.“
„Was hat er gesagt?“
„Dass sie gestern Abend Pizza essen waren, dann haben sie angeblich noch eine Weile gelernt und sind schlafen gegangen.“ Erst jetzt, als sie sich die Unterhaltung wieder ins Gedächtnis zurückrief, fiel ihr auf, dass sie so ganz normal nicht gewesen war. Richard war beim Telefonieren meist sachlich, kurz angebunden. Diesmal hingegen hatte er fast schon zu viel geredet.
„Er hat sich ganz normal angehört“, sagte sie noch einmal, in einem Ton, der keinen Zweifel zuließ. Hanka konnte sie damit vielleicht überzeugen, aber ihren eigenen Körper überlisten nicht. Auf einmal war es wieder da: das Kribbeln im Bauch. Es kam genauso wie vor achtzehn Jahren – scheinbar ohne Grund.
„Das hat keinen Sinn, jetzt hier rumzuspekulieren. Ich hab gleich eine Sitzung, die kann ich leider nicht sausen lassen. Ruf Richard an. Wenn er rangeht, soll er Martin ausrichten, dass er sich umgehend bei mir melden soll!“, sagte Hanka energisch und legte auf.
Alena rief sofort bei Richard an. Ausgeschaltet. Sie schrieb ihm eine SMS, er möge sich bei ihr melden, und setzte drei Ausrufezeichen, die sie nach kurzem Überlegen wieder löschte und durch einen Smiley ersetzte; so würde er das Maß ihrer Sorge nicht mitbekommen. Sie vor Štěpán zu verbergen, hatte sie nicht vor. Sie wählte seine Nummer und konnte in sich kaum die nervöse Furcht bändigen, dass er nicht ans Telefon gehen würde. Er hatte jeden Tag mehrere Wahlkampfveranstaltungen, auf ihre Anrufe und Nachrichten reagierte er manchmal erst Stunden später. Diesmal hob er zum Glück sofort ab. Ehe er losredete, musste er sich räuspern.
„Ich wollte dich gerade anrufen.“
Seine Stimme war heiser, aber wie üblich beruhigend. Durch sie erschienen alle Hindernisse ohne Ecken und Kanten, als würde sie sie unter Wasser in einem Schwimmbecken sehen. Sie verließ sich auf ihren Mann. Genauso hatte sie sich einst auf sich selbst verlassen, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sich das anfühlte: innere Sicherheit. Stattdessen hatte sie Štěpán. Er war die Stütze ihres Lebens, sie konnte alles bei ihm abladen, es erschütterte ihn nicht.