Rost. Jakub Małecki
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»Morgen kommen wir wieder.«
Auf dem Heimweg hielten sie manchmal an, um ein Eis zu essen. Sie sprachen nicht viel. Von einigen belauschten Gesprächen wusste Szymek schon, was geschehen war. Er wusste, dass seine Eltern, aus Warschau kommend, kurz vor der Abfahrt von der Hauptstraße aus unbekannten Gründen gegen einen Baum gefahren waren. Er wusste: eine Tragödie, so jung, die Einzige aus Chojny mit einer Ausbildung im Ausland, guter Gott, so ist das Leben.
Wenn sie das Eis gegessen hatten, fuhren sie heim. Großmutter zog sich um und ging zu den Kaninchen. Er mit ihr, weil sie es so wollte. Das musst du lernen, erklärte sie, wenn er sagte, er will nicht, er mag nicht. Er stand hinter ihr, wenn sie immer mit den gleichen Dingen beschäftigt war: Köttel, Körnerfutter, Wasser, Heu, manchmal ein halber Salatkopf, manchmal das Versetzen eines Kaninchens in einen anderen Käfig, um es gleich darauf wieder herauszuholen.
Erst wenn sie damit fertig war, konnte er tun, was er wollte. Er hatte bis zum Mittagessen Zeit. Nach dem Essen musste er mit ihr noch in den Heizkeller gehen, wo die Wachteln wohnten, danach hatte er endlich seine Ruhe. Bis zum nächsten Tag, wo alles wieder von vorn losging: Frühstück, Friedhof, Kaninchen.
Auch die Wochentage hatten ihre Ordnung. Freitags fuhren sie in die Stadt zum Einkaufen. Er lenkte den Wagen. Manchmal durfte er sich in der Zeitschriftenabteilung ein Comic-Heft mit Geschichten über Dagobert Duck und all die anderen holen. Meistens nicht. Samstags gab es eine Stunde Gymnastik und abends wurden Bücher gelesen, sonntags lief eine Tiersendung im zweiten Programm, nach dem Mittagessen gab es Nachtisch, und später schaute man feierlich zusammen die Serie Im Guten und im Schlechten. Montagabends kamen zwei Damen zum Kartenspielen, dienstags musste man zu Herrn Romek fahren, der von Großmutter Eier kaufte. Mittwochabends hängte Szymek einen leeren Futtersack an den Zaun, denn Donnerstagmorgens kam der Wagen von Naturka. Man hörte ihn schon von Weitem. Die lebhafte Melodie ergoss sich über Chojny und lockte die Menschen aus den Häusern. Das gelbe, schlammbeschmierte Auto mit dem Lautsprecher auf dem Dach stoppte bei den ausgehängten Säcken und den auf die Straße gestellten Schubkarren. Für einen Moment verstummte die Musik, die Tür ging weit auf und hinter dem Lenkrad schlüpfte geschickt Herr Jurek hervor, mit seinen ganzen hundert Kilo, seinem runden Gesicht und dem Nacken wie ein Baumstamm. Um seinen Kopf ringelten sich rote Löckchen. Szymek lief die Treppe hinunter, schlüpfte in die Schuhe, und schon war er am Gartentor. Herr Jurek gab ihm immer die Hand wie einem Erwachsenen, und Szymek drückte sie fest. Es fiel ihm auf, dass ihm Herr Jurek, im Gegensatz zu anderen Leuten, nie Fragen stellte, sich nicht über ihn beugte, keine witzigen Geschichten erzählte, sondern nur ans Auto gelehnt dastand und wartete.
Großmutter kaufte Futter für die Kaninchen und für die Wachteln, das sie später mit Körnern mischte. Herr Jurek trug die Säcke in den Heizkeller und stellte sie an ihren Platz. Wenn Großmutter ihm die fünfzig Zloty reichte, sagte sie immer:
»Und für den Rest kauf dir ein Brötchen oder so, Junge.«
Manchmal fuhr Szymek mit ihm zum Laden, weil Frau Duszna keine Rothaarigen bediente. Beim Anblick eines rothaarigen Kunden drehte sie sich jäh um und verschwand in dem kleinen Hinterzimmer: angeblich schon immer.
Szymek ging dann allein hinein und kaufte Coca-Cola, Waffeln, manchmal ein Brötchen mit einer Wurst drin. Er zahlte mit dem Geld von Herrn Jurek, reichte ihm draußen die Sachen, gab das Wechselgeld zurück, und Herr Jurek fuhr weiter, während Szymek sich auf den Heimweg machte, ein Fuß vor den anderen, ein Haus nach dem anderen, alles immer bekannter. Das Zlotystück, das er gewöhnlich bekam, für einen Lutscher oder sonst was, legte er später meistens auf die Gleise.
Mit Budzik traf er sich täglich. In der Regel verabredeten sie sich schon vor dem Mittagessen und gingen zur Schaukel, in den Wald oder Fußball spielen. Manchmal versuchten sie, durch das Fenster heimlich Wera Matusiak zu beobachten oder mit der Schleuder ein Rebhuhn zu jagen. Am Nachmittag gingen sie meist zu den Gleisen. Sie legten ihre Gegenstände auf die Schienen und suchten sie später im Gras. Sie winkten den Maschinisten und zählten die Waggons. Budzik fragte ein paarmal nach dem Unfall, nach der Beerdigung und ob es schrecklich gewesen sei. Schließlich hörte er auf damit, es gab wichtigere Themen. Zum Beispiel, ob es Geister gebe. Budzik war der Ansicht – ja.
»Im Gebüsch hinter dem Haus der Ochyra stand früher eine Scheune, darauf haben sie Bomben geworfen, da sind fast hundert Leute verbrannt und alle gestorben, und jetzt geistern sie herum«, verkündete er eines Tages, als sie auf einem Baum saßen und mit der Schleuder auf Vögel schossen.
Szymek zielte mit zusammengekniffenen Augen. Er schoss, verfehlte, wie meistens. »Geister gibt’s nicht«, brummte er.
Budzik versicherte, die gebe es wohl, er wisse das hundertprozentig und würde ja nicht lügen. Sie kletterten vom Baum und gingen zu dem vernachlässigten Hof der Ochyra. Budzik vorneweg. Er ging schnell und schlenkerte mit den Armen. Seine dünnen Unterarme waren braungebrannt. Über dem ausgefransten Bündchen seines T-Shirts waren blasse Fetzen von abgehender Haut zu sehen.
Sie kamen an einigen Häusern vorbei und an einer Wiese mit einem Tor, das größere Jungs aus Latten gezimmert hatten. Ein Stück weiter hielt Budzik an und zeigte auf eine mit Unkraut überwucherte Baumgruppe.
»Da ist es.«
Sie gingen etwas näher ran, Schritt für Schritt, langsam. Junge Bäume, Gras bis zu den Knien, Disteln. Von einer Scheune und von Geistern keine Spur. Szymek nagte an seinem Daumennagel. Er sah sich um. Budzik guckte vor sich hin und erklärte:
»Alle verbrannt. Hundert oder sogar mehr Leute. Vielleicht auch zweihundert. Vater hat gesagt, nachts soll man lieber nicht hierherkommen, weil es hier spukt. Denkst du vielleicht, mein Vater lügt?«
Szymek blieb dabei, dass er es nicht glaube, Budzik nannte ihn einen Frosch, schließlich begannen sie, einander zu überbieten, wer mutiger sei.
»Ich kann sogar dort hingehen und ganz normal scheißen«, verkündete Budzik.
Szymek sagte: »Das machst du nie.« Sie wetteten und machten ab, dass der Verlierer dem Sieger das zweitbeste Klebteil aus seiner Sammlung geben müsse: das zu einem Schmetterling plattgepresste Scharnier oder das Spinnennetz aus Nägeln. Sie gaben sich die Hand und Budzik ging in die Büsche.
Er grinste sein Zahnlückengrinsen. Mitten auf dem zugewachsenen Platz blieb er stehen, ließ die Hose runter und hockte sich hin.
Am Nachmittag überreichte Szymek ihm seinen Metallschmetterling.
Am nächsten Morgen sah Großmutter die Schnur.
Sie setzte sich ans Bett und deckte Szymek bis zum Hals zu. Er schlief nicht mehr, tat nur so. Plötzlich schüttelte sie ihn, er spürte, wie sie ihre kleinere Hand auf seiner Schulter schloss. Er hatte sie einmal gefragt, warum sie an der einen Hand fünf und an der anderen nur drei Finger habe, aber sie wollte nichts sagen. »Durch meine Dummheit«, hatte sie nur gebrummt. Jetzt klang ihre Stimme ganz ernst.
»Szymek.«
Er kniff die Augen fester zusammen.
»Szymek!«
Er sah sie an und sagte nichts.
»Was ist das?«, fragte sie und zog an der Schnur.
Er wollte den entblößten Fuß zudecken, doch Großmutter