Rost. Jakub Małecki

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Rost - Jakub Małecki

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nichts zu interessieren, nichts zu wollen. Er hielt einen Becher in der Hand, aber so, wie man ein Blatt in der Hand hält, das man aus irgendeinem Grund abgerissen und schon vergessen hat. Er war weder besonders groß noch besonders klein, hatte eine leichte Stupsnase, schwarzes Haar, schwarze Brauen, Hände und Gesicht waren braungebrannt, die Schultern eher breit. Die Augen so, dass man Lust hatte, die Finger hineinzustecken und zu prüfen, ob sie wirklich existierten, oder ob es nur Löcher im Kopf waren, durch die man hindurchfassen könnte. Er stand allein da, lächelte nicht, sprach mit niemandem, sang nicht. Getanzt hatte er wohl auch nicht, jedenfalls hatte sie es nicht gesehen. Sie kannte ihn nicht als einen aus Chojny; vielleicht war er aus Grzegorzew oder aus Tarnówka, vielleicht war er zu Besuch hier, vielleicht kam er auch einfach aus dem Nichts. Das schien ihr am wahrscheinlichsten.

      Später sollte sie erfahren, dass er ein Cousin von Herrn Drews war, fünfundzwanzig Jahre alt, dass er Karol Lipiec hieß und im Wald arbeitete. Doch jetzt wusste sie nichts – jetzt starrte sie ihn an und spürte, dass sie bisher gar nicht existiert hatte, dass es sie gar nicht gegeben hatte, dass sie erst jetzt lebte.

      Sie saß an dem riesigen Tisch, Gienia an der Hand, im Haar eine Blume, die ihr Mutter angesteckt hatte, weil sie meinte, das sei schön. Sie roch das Fleisch nicht, sie hörte das Lachen und die Gespräche nicht, die zu engen Schuhe, Gienias Hand und das in die Füße piksende Gras existierten nicht mehr. Es gab ausschließlich diesen seltsamen Menschen aus dem Nichts.

      Später ging er in der Menge unter. Er tanzte widerwillig, als würde ihn alles furchtbar langweilen, vor allem die Frauen. Als das Orchester die nächste kurze Pause machte, stand Tosia auf und ging zu ihm hin. Sie reichte ihm mit dem Kinn bis zum Bauch.

      »Na du?«, fragte er.

      Er sah sie an, niemand anderen, nur sie; er lachte nicht, zog nicht blöd die Brauen hoch wie andere, er tat nichts, guckte einfach, und sie schmolz dahin, versank in der Erde und hatte das Gefühl, dass sie gleich in die Hose machen würde.

      »Ich würde gern tanzen«, sagte der Jemand, der sie jetzt war.

      Der Unsichtbare nickte, ohne den Blick von ihr zu wenden. Aus der Nähe sah man eine rosarote Narbe, die vom Ohr zum Hals verlief.

      »Wir tanzen, wenn du erwachsen bist«, sagte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass sie für dieses Erwachsensein die Seelen ihrer Eltern und ihres Bruders gegeben hätte. Sie wollte wissen, wann man denn erwachsen sei. Mit zehn? Doch wohl nicht erst mit fünfzehn? Sie wollte jetzt erwachsen sein, jetzt sofort, sie wollte tanzen. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, drehte er sich um und entfernte sich ein paar Schritte. Er stellte sich wieder neben den Tisch, allein, mit dem lächerlichen Becher in der Hand, und war weiterhin einfach nicht da.

      In der Nacht schlief sie schlecht; am Morgen kam sie kaum aus den Federn. Sie fühlte sich anders, schlechter, besser, doch eher schlechter. Als wäre jemand aus ihrem Kopf in den Bauch umgezogen. Sie lief wie benommen umher, ihr war übel, sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Sie überlegte, ob sie vielleicht schon erwachsen sei, und wenn nicht, wann sie es wohl wäre. Wie groß musste man sein: einen Meter dreißig? Einen Meter fünfzig?

      Sie war nicht hungrig und nicht satt, sie war weder müde noch ausgeruht; fröhlich war sie nicht, aber auch nicht traurig, als wäre sie gar nichts. Als wäre sie nicht zu Hause, sondern immer noch dort auf der Wiese, als stünde sie immer noch dem Unsichtbaren gegenüber, mit dem Kopf auf der Höhe seines Bauchs, die Augen auf die Narbe am Hals gerichtet. Dort stand sie den ganzen Tag, und er wiederholte von Zeit zu Zeit, er werde mit ihr tanzen, wenn sie erwachsen sei. Erst gegen Abend war sie wieder mehr zu Hause als auf der Wiese, sie hatte keine Wahl, wegen Vater.

      Sie waren schon seit dem Morgen am Bildstock zugange: Vater, Drews, Nagórny und einige andere. Bei der Bombardierung hatte es den Bildstock aus der Erde gerissen, seither lag er im Gebüsch, Maria mit dem Gesicht nach unten. Es regnete seit dem Morgen. Nach allen Seiten breiteten sich allmählich Pfützen aus, auf der Straße glänzte der Schlamm. Jemand behauptete, Maria mit dem Gesicht im Schlamm könne nur weiteres Unglück bringen, also versuchten sie, Maria wieder aufzustellen. Die Figur war schwer und glitschig, aber beim dritten Mal gelang es. Tosia musste ihnen alle Augenblicke irgendetwas holen – sei es eine Schnur aus dem Schuppen, ein Schmalzbrot oder schließlich ein trockenes Hemd für Vater und auch einen Hut, denjenigen, den er nie trug. Es regnete immer stärker und Mama bat die Männer, sie mögen diese Arbeit »auf morgen verschieben, sonst erkältet ihr euch alle, und das war’s dann«, aber niemand hörte auf sie, am wenigsten Vater. Am späten Abend stellten sie Maria wieder an ihren Platz, die Leute kamen zusammen und bewunderten das Werk: der Bildstock nach der Bombardierung, und kein Kratzer zu sehen.

      »Guckt mal, der Allmächtige hat nicht zugelassen, dass die Deutschen den Bildstock ruinieren«, sagte Frau Nagórna zu Tosia und den anderen Kindern.

      Tosia betrachtete das traurige Gesicht der durchnässten Maria und das dunkle Herz, das auf ihre Brust gemalt war.

      »Hätte er nicht besser zugelassen, dass der Bildstock ruiniert wird, und die Leute in der Scheune gerettet?«, fragte sie, aber niemand antwortete.

      Vater hatte sich beim Aufstellen des Bildstocks erkältet, wie Mama prophezeit hatte, denn Mama hatte immer recht. Am Morgen hustete er, dass es krachte. Er beharrte darauf, es sei nichts, aber das stimmte nicht. Am Abend kapitulierte er endlich, kroch ins Bett und schlief ein. Er lag neun Tage im Bett, und am zehnten starb er.

      Es war eine Grippe – das jedenfalls behauptete Frau Ochyra, die sich mit Krankheiten ein wenig auskannte und meinte, das wäre nicht vom Regen und der Sache mit dem Bildstock gekommen, solche Dinge würde man längere Zeit ausbrüten. Er selbst machte den Eindruck, als wüsste er alles Nötige. Er traf Anordnungen, erklärte, was mit den Pferden, was mit der Schmiede, was mit dem Obstgarten zu tun sei. Die meiste Zeit schlief er.

      Alle paar Stunden erwachte er aus einem seichten Schlaf und schüttelte heftig den Kopf. Und er weinte. Das erste Mal nachts, verschwitzt und kaum bei sich. Am Montag ermordeten die Arschlöcher von der Wehrmacht in Sochaczew angeblich dreihundert Menschen, darunter viele Zivilisten, und er lag im Bett und starb an Grippe. Am Dienstag kämpfte ein Oberst Dębek oder Dąbek auf der Öxhöfter Kämpe wie verrückt bis zum letzten Atemzug und nahm sich am Ende selbst das Leben, und er lag im Bett und starb an Grippe. Mittwoch, Donnerstag und Freitag war der Albtraum schlechthin, Bomben zerrissen Häuser, Scheunen und Menschen, Blut sickerte in die Erde, die Leute kämpften, die Leute verwandelten sich in Feiglinge, in Helden, in Verräter und Märtyrer, und er lag im Bett und starb an Grippe.

      Das zweite Mal weinte er vor aller Augen. Er sagte nichts mehr, schaute niemanden an, schlug nur einmal mit schwachen Händen auf das Federbett, dann atmete er schwer. Tosia sah zum ersten Mal im Leben, wie Vater weinte, und im ersten Moment kam ihr das komisch, sehr komisch vor, aber später nicht mehr. Später schaute sie in seine großen Augen und auf das seltsam hagere Gesicht und weinte selbst, denn sie verstand nicht, warum Papa immer noch hustete. Er starb am Samstag, kurz vor Sonnenaufgang, vermutlich im Schlaf.

      Sie fragte sich, ob der Unsichtbare zur Beerdigung kommen und ob er sie erkennen werde. Er kam, erkannte sie aber nicht. Es war im Übrigen schwer zu sagen. Er stand bei Familie Drews, wieder quasi allein, wieder quasi gelangweilt von all dem; sie hatte Lust, zu ihm zu laufen und zu rufen, es sei ihr Vater, der gestorben sei, es sei die Beerdigung ihres Vaters, da sei Trauer angemessen; sie stellte sich vor, er wäre dann sehr betroffen und würde sie vor aller Augen an sich drücken und sagen, sie sei jetzt erwachsen und sie könnten

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