Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram
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II. Bewusstsein
Überblick
Das Bewusstseinskapitel eröffnet Hegels Durchgang durch unterschiedliche Konzeptionen des Wissens. Es zerfällt in drei Großabschnitte:
1 Der erste dieser Abschnitte setzt bei einem direkten sinnlichen Bezug auf Gegenstände an, den Hegel als »sinnliche Gewissheit« bezeichnet;
2 der zweite kommentiert ein Wahrnehmungsverhältnis, in dem Gegenstände mittels ihrer Eigenschaften erfasst werden;
3 und der dritte setzt sich schließlich mit Versuchen auseinander, die Zusammenhänge der Wahrnehmungswelt durch hinter den Erscheinungen wirksame Kräfte zu erklären.
Charakteristisch für den Ausgangspunkt, den Hegel wählt, ist der Begriff der Unmittelbarkeit, der eine Bewusstseinsgestalt charakterisiert, die dem eigenen Verständnis nach ohne alle Voraussetzungen auskommt. Hegel hält es für zwingend, seinen Weg zu einem angemessenen Wissen vom Wissen mit dieser Gestalt zu beginnen. Er will zeigen, dass sich alle Konzeptionen, die Wissen von diesem Ausgangspunkt her zu begreifen suchen, in unlösbare Widersprüche verwickeln. Diese Widersprüche liegen in erster Linie darin begründet, dass auf der Basis eines direkten Gegenstandsbezugs kein plausibler Begriff von Allgemeinheit gewonnen werden kann. Es zeigt sich aber in den Betrachtungen zunehmend, dass die Explikation von Wissen eines tragfähigen Begriffs von Allgemeinheit bedarf.
Das Bewusstseinskapitel weist so von Anfang an über sich hinaus. Es ist auf den Übergang zum Selbstbewusstseinskapitel hin angelegt. Dabei zeigt es bereits ein wichtiges Prinzip der Darstellungen der PhG: Die aufgrund ihrer Widersprüche kritisierten Wissenskonzeptionen werden von Hegel zugleich als solche kommentiert, die wichtige Einsichten liefern.
Drei Einsichten der Konzeptionen, die im Bewusstseinskapitel im Zentrum stehen, stechen besonders heraus:
Erstens ist ein Wissen, das Gegenstände konkret erfasst, nur auf Basis von Allgemeinbestimmungen möglich.
Zweitens sind die erforderlichen Allgemeinbestimmungen nicht aus sich heraus bestimmt, sondern stehen in konstitutiven Beziehungen zueinander. Kurz gesagt: Begrifflicher Gehalt ist holistisch konstituiert. Ein Begriff hat nur dann Bedeutung, wenn auch viele andere Begriffe Bedeutung haben. Hegel macht damit deutlich, dass diese Einsicht bereits in einfachen Konzeptionen empirischen Wissens erreicht wird.
Drittens können Allgemeinbegriffe nicht aus dem bloßen Bezug auf Gegenstände heraus gewonnen werden, sondern bedürfen in ihrer Konstitution des Bezugs des Bewusstseins auf sich selbst. Allgemeinbestimmungen stellen einen beständigen Zusammenhang zwischen wechselnden Gegenständen her, verbinden also Beständigkeit und Unbeständigkeit miteinander. Diese Verbindung lässt sich nicht aus dem Gegenstandsbezug heraus begründen, sondern bedarf des Bezugs auf das Bewusstsein, das in seinem Umgang mit unterschiedlichen Gegenständen Bestimmungen festhält. Damit ist der Übergang zu den Wissenskonzeptionen des Selbstbewusstseinskapitels vorgezeichnet.
Probleme der Interpretation
Das Bewusstseinskapitel wirft drei zentrale Fragen für die Interpretation auf:
1 Wen kommentiert Hegel in den Abschnitten, die dieses Kapitel umfasst? Ist sein Ansatzpunkt ein neuzeitlicher Empirismus, der die These vertritt, es sei nichts im Geiste, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist? Oder handelt es sich um eine abstrakte Zusammenstellung von Positionen, die nicht einer einheitlichen Tradition angehören?
2 Dazu gehört eine zweite Frage: Worin besteht der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Positionen, die Hegel im Bewusstseinskapitel bespricht? Gerade dann, wenn man zu der Auffassung gelangt, dass Hegel die Positionen nicht aus einer einheitlichen Tradition schöpft, sondern selbst einen Zusammenhang herstellt, gewinnt diese Frage an Relevanz: Was ist die Gemeinsamkeit der Bewusstseinsgestalten, die dem ersten Augenschein nach recht unterschiedlich sind? Um diese Gemeinsamkeit zu klären, ist es auch wichtig zu verstehen, wie die in dem Kapitel zusammengebrachten Bewusstseinsgestalten aneinander anschließen.
3 Die vielleicht heikelste Frage in der Interpretation des Bewusstseinskapitels liegt besonders nahe. Sie lautet: Wie funktioniert der Übergang zum Selbstbewusstseinskapitel? Welche Widersprüche machen das Ende des Bewusstseinskapitels aus, und inwiefern werden diese Widersprüche von Wissenskonzeptionen aufgehoben, in deren Zentrum das Selbstbewusstsein steht?
Detaillierter Kommentar
I. Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen
Hegel beginnt seine Überlegungen mit einer Wissenskonzeption, die ihrem Selbstverständnis nach voraussetzungslos ist. Wir haben bereits in der Einleitung gesehen, dass es für ihn selbstverständlich ist (er spricht von einem »natürlichen Bewusstsein«), Wissen voraussetzungslos begründen zu wollen. Aus diesem Grund muss die Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit am Anfang stehen. Sie macht geltend, dass Wissen durch den direkten Kontakt mit Gegenständen in der Welt erworben wird. Der Wissensanspruch, der hier vertreten wird, besagt, dass durch diesen direkten Kontakt, durch ein reines Auffassen der Welt, das reichste und konkreteste Wissen zustande kommt. »[E]ine Erkenntnis von unendlichem Reichtum« (85/82) solle auf diese Weise gewonnen werden.
Welche Gegenstandsauffassung aber korrespondiert diesem Anspruch? Hegels Kommentar zur »sinnlichen Gewissheit« gibt ein gutes Beispiel für die einer Bewusstseinsgestalt inhärenten Widersprüche, von denen Hegel in der Einleitung spricht. Die Gegenstandsauffassung nämlich bedeutet das Gegenteil dessen, was der Wissensanspruch verspricht. Die Gegenstandsauffassung ist die »abstrakteste und ärmste Wahrheit« (85/82). Dies sucht Hegel mit seiner Explikation gleich zu Anfang deutlich zu machen. Falls ein bloß direkter Gegenstandskontakt zu Wissen führen soll, so bedeutet das, dass nur eine einzige Beziehung im Spiel ist, nämlich diejenige des Bewusstseins auf seinen Gegenstand. Mögliche Beziehungen, die für den Gegenstand und das Bewusstsein sonst relevant sind, können entsprechend in dieser Wissenskonzeption nicht durch das Bewusstsein erfasst werden. Um sie zu erfassen, müsste es seinen Anspruch aufgeben, den Gegenstand durch einen unmittelbaren Kontakt zu wissen. So kommen für das Bewusstsein weder Beziehungen im Gegenstand, zum Beispiel zwischen unterschiedlichen seiner Eigenschaften, noch Beziehungen im Rahmen des Bewusstseins, zum Beispiel zwischen unterschiedlichen seiner Bewusstseinsinhalte, in Betracht. In Hegels Worten:
Ich, dieser, bin dieser Sache nicht darum gewiss, weil Ich als Bewusstsein hiebei mich entwickelte und mannigfaltig den Gedanken bewegte. Auch nicht darum, weil die Sache, deren ich gewiss bin, nach einer Menge unterschiedener Beschaffenheiten eine reiche Beziehung an ihr selbst, oder ein vielfaches Verhalten zu andern wäre. (85/82 f.)
Es bleibt bei dem direkten Kontakt des Bewusstseins zu seinem Gegenstand. Aus diesem Grund ist das »reine Sein« (86/83), das bloße »dies ist« der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit. Damit wird, so insistiert Hegel, kein reiches, sondern ein überaus undifferenziertes und somit armes Wissen erworben. Der Gegenstand des Wissens steht im eklatanten Widerspruch zu dem erhobenen Wissensanspruch. Oder anders gesagt: Der Wissensanspruch wird durch die Wissenskonzeption nicht eingelöst.
Die Bewusstseinsgestalt des sinnlichen Wissens ist aber in ihrer Grundstruktur nicht hinreichend gefasst, wenn man nur die Unmittelbarkeit des Gegenstands betont. Die sinnliche Gewissheit, so Hegel, bezieht sich auf die Gegenstände, auf die sie sich bezieht, als eine Instanz von Unmittelbarkeit. Sie