Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram
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Dieser Grundwiderspruch spielt auch in den unterschiedlichen Formen eine entscheidende Rolle, in Bezug auf die Hegel die Bewusstseinsgestalt im Folgenden weiter analysiert. Hegel unterscheidet drei Formen, in denen die sinnliche Gewissheit auftritt:
1 In der ersten Form ist ein äußeres Objekt der Gegenstand der sinnlichen Gewissheit (86–88/83–86),
2 in der zweiten Form das subjektive Bewusstsein in unterschiedlichen seiner Zustände (88–90/86–87).
3 Die dritte Form schließlich bezieht sich auf einen Zusammenhang von Subjekt und Objekt als seinen Gegenstand (90–92/87–90).
Hegel verfolgt diese unterschiedlichen Formen aus der Perspektive dessen heraus, der die Entwicklungen, denen er folgt, überschaut. Dies liegt darin begründet, dass die Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit keine Beziehungen kennt – und damit auch keine Beziehungen des Wissenden auf sein Wissen. Wenn es in einer Bewusstseinsgestalt kein Wissen vom eigenen Wissen gibt, kann es auch keine Selbstkorrektur in Bezug auf den eigenen Wissensanspruch geben. Wer sich zu seinem eigenen Wissen verhält, kann sich durch Widersprüche in der eigenen Wissenskonzeption zu Entwicklungen genötigt sehen. Viele andere Wissenskonzeptionen, die Hegel im Rahmen der PhG kommentiert, vollziehen gewissermaßen aus sich selbst heraus Entwicklungen – die sinnliche Gewissheit tut dies nicht. In ihrem Fall führen die Widersprüche nur an sich zu einer Entwicklung, nicht für das Bewusstsein (vgl. zu diesem Vokabular hier S. 48 f.). Es kommt dem Kommentator Hegel zu, die Widersprüche der Bewusstseinsgestalt als Motor einer Entwicklung zwischen unterschiedlichen Formen, in denen die Gestalt auftritt, verständlich zu machen. Man kann ihn so verstehen, dass er sagt: Unterschiedliche Realisierungen der Wissenskonzeption hängen zusammen. Es gibt demnach einen Übergang von der Realisierung, der zufolge man Wissen aus dem direkten Kontakt mit äußeren Gegenständen zu gewinnen sucht, zu der Realisierung, in der ein entsprechender Kontakt mit eigenen Bewusstseinszuständen dies leisten soll, zu einer Realisierung, in der ein Konglomerat aus beidem die Basis des Wissens abgeben soll. Hegel zeigt, dass in allen drei Realisierungen die grundlegenden Widersprüche der Konzeption fortbestehen.
Die erste Form der sinnlichen Gewissheit ist besonders naheliegend: Es ist nach ihrem Verständnis ein Wissen, das durch direkten Kontakt mit einem äußeren Gegenstand zustande kommt. Um den Widerspruch dieser Konzeption herauszuarbeiten, stellt Hegel ihr eine einfache Frage: »Was ist das Diese?« (87/84) Die sinnliche Gewissheit will Wissen durch den direkten Bezug auf einen Gegenstand gewinnen. Einen solchen Bezug können wir sprachlich mit einem Demonstrativpronomen artikulieren. »Das Diese« steht für den direkten Bezug, der zu Wissen führen soll. Worin also besteht er? Hegel führt aus:
Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins, als das Itzt und als das Hier, so wird die Dialektik, die es an ihm hat, eine so verständliche Form erhalten, als es selbst ist. Auf die Frage: Was ist das Itzt? antworten wir also zum Beispiel: Das Itzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewissheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, dass wir sie aufbewahren. Sehen wir itzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, dass sie schal geworden ist. (87/84)
Hegels These ist, dass die Konzeption eine Dialektik, also einen Widerspruch in sich trägt. Der Widerspruch zeigt sich in einem Versuch, das Konkrete, was durch den direkten Verweis gewusst werden soll, festzuhalten. Was festgehalten wird, ist aber nicht das konkrete Einzelne, sondern die räumlichen und zeitlichen indexikalischen Ausdrücke des Hier und des Jetzt. Gewusst wird also immer ein »Dies ist hier« oder »Dies ist jetzt« (oder beides).
Ein Hier oder ein Jetzt aber sind nicht konkret. Es handelt sich vielmehr um Verweisungen, die auf sehr vieles zutreffen können. Das heißt, dass sich hier in einer spezifischen Weise genau die Struktur zeigt, die Hegel schon allgemein im dritten Absatz des Abschnitts analysiert hat: Der direkte Kontakt der sinnlichen Gewissheit zu äußeren Gegenständen ist immer einer unter vielen. Ein bestimmtes Hier ist entsprechend immer ein Hier unter vielen Hier. Oder anders gesagt: Ein Hier gibt es nur, sofern es auch viele andere Hier gibt. Das Hier ist etwas, das sich auf vieles Einzelne anwenden lässt. Hegel sagt nun zu Recht: Eine Bestimmung (in diesem Fall eine einfache Verweisungsbestimmung, ein indexikalischer Ausdruck), die sich auf vieles Einzelne anwenden lässt, ist ein Allgemeines (wobei ein indexikalischer Ausdruck in seiner Struktur nicht mit einem Prädikat zu verwechseln ist, also einer Allgemeinbestimmung vom Typ »… ist ein Haus«). Entsprechend erläutert er die Struktur einer solchen Bestimmung, wie sie für das in der sinnlichen Gewissheit zustande kommende Wissen gilt, folgendermaßen:
Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder dieses noch jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch dieses wie jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; […]. (88/85)
Hegel schließt an diese Erläuterung seine zentrale Diagnose an: »[…] das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewissheit.« (88/85) Seine These ist damit, dass Gegenstände im Rahmen der Wissenskonzeption der sinnlichen Gewissheit – konträr zu ihrem Anspruch, etwas schlechthin Konkretes zu wissen – auf eine sehr allgemeine Art und Weise gewusst werden. Wer durch einen direkten Bezug auf Gegenstände Wissen realisiert, weiß das, was er weiß, durch die Allgemeinbestimmungen des »Dieses«, »Hier« und »Jetzt«. Mit Blick auf die sprachliche Praxis kann man das auch so ausdrücken: Er weiß, wie man »dieses«, »hier« und »jetzt« gebraucht. Da man solche demonstrativen und indexikalischen Ausdrücke in Bezug auf viele unterschiedliche Gegenstände gebrauchen kann, hat das Wissen keine konkrete Bestimmtheit.
Diese Diagnose Hegels macht verständlich, warum er zu Anfang seiner Erläuterungen sagt, es handele sich bei dem Wissen der sinnlichen Gewissheit um die »abstrakteste und ärmste Wahrheit« (85/82). Gewusst wird nicht das konkrete Einzelne, sondern vielmehr, wie man sich mit allgemeinen demonstrativen und indexikalischen Bestimmungen auf Einzelnes zu beziehen vermag. Die allgemeinen Bestimmungen sind dabei so verfasst, dass sie von jedem Konkreten gerade absehen. Sie beziehen sich in einer Art und Weise auf Einzelnes, in der man sich auf vieles Einzelne beziehen kann. So ist jeder entsprechende Bezug auf ein Einzelnes damit verbunden, dass es viele andere mögliche Bezüge auf Einzelne gibt, die aber in der entsprechenden Situation gerade nicht realisiert werden.
Hegel sagt aus diesem Grund – wie bereits gesehen –, dass in der sinnlichen Gewissheit immer schon Negationen im Spiel sind. Und das heißt, dass die Wissenskonzeption sich nicht nur erstens darin widerspricht, dass sie nichts Konkretes weiß. Sie widerspricht sich auch zweitens in ihrem Anspruch, dass das Wissen ganz direkt, ohne irgendwelche Beziehungen zustande kommt. In der Konstitution von allgemeinen Bestimmungen sind immer Beziehungen im Sinne von Negationen im Spiel: So wird unter anderem ein Zeitpunkt von anderen Zeitpunkten unterschieden und damit zu ihnen in Beziehung gesetzt. Entsprechende Beziehungen prägen den Gegenstandsbezug der