Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar. Georg W. Bertram

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Hegels

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Beschränkten. Das Bewusstsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst. (77 f./74)

      Mit diesen Ausführungen bezieht sich Hegel auf einen Unterschied, den unter anderem ein anderer der wichtigen Vorgänger Hegels, Johann Gottfried Herder (1744–1802), in seinen anthropologischen Überlegungen gemacht hat:19 Natürliche Lebewesen haben organische Anlagen, um in bestimmten Umgebungen lebensfähig zu sein. Sie sind in diesem Sinn unmittelbar an diese Umgebungen gebunden und auf diese beschränkt. Kommt es zu relevanten Änderungen dieser Umgebungen, zum Beispiel durch einen menschlichen Eingriff oder durch Naturkatastrophen, verändern sie sich oder gehen zugrunde. Bewusste beziehungsweise rationale Lebewesen hingegen können sich von ihren Umgebungen distanzieren. Sie können sich und ihre Umwelt befragen. Insofern ist für Menschen nichts einfach in ihrer bloßen Natur begründet, sondern immer erst dadurch, dass sie sich zu etwas verhalten. Sie können immer Fragen stellen wie: »Ist das richtig?«, oder: »Sollten wir das so machen?« Durch solche Fragen verderben sie sich, wie Hegel pointiert sagt, jede beschränkte Befriedigung. Alles, was ihnen einfach natürlich vorkommt, kann sich als unnatürlich, falsch oder anders erweisen.

      Nun ist es allerdings Hegel zufolge nicht so, dass Menschen einfach von Natur aus kritikfähig sind. Sie müssen sich Kritikfähigkeit erarbeiten. In diesem Sinn spricht er davon, dass der Weg zum Wissen vom Wissen nur durch »Bildung« (76/73) zu erreichen ist (dieser Begriff wird entsprechend auch im Geistkapitel eine wichtige Rolle spielen). Er behauptet in der Einleitung damit, dass es sein Anspruch ist, das Wissen vom Wissen bis zu dem Punkt zu verfolgen, an dem wir uns in unserer – nichtnatürlichen – Konstitution als selbstkritische Wesen verständlich werden – als Wesen, die alles einer kritischen Prüfung zu unterziehen vermögen. Ist dieser Punkt erreicht, wird verständlich, dass ein Wesen bleiben kann, was es ist, auch und gerade dann, wenn es durch Selbstkritik Veränderungen anstößt. Genau diese Struktur will Hegel aufklären.

      Damit lässt sich bereits ein erster Hinweis darauf gewinnen, warum die PhG immer wieder historische Entwicklungen einbezieht. Der Punkt, an dem wir uns als selbstkritische Wesen verständlich werden, ist aus Hegels Sicht als ein solcher zu verstehen, der historisch erreicht wurde – und zwar in der Moderne. Ich habe bereits in der Einführung dieses Kommentars betont, dass die Konstitutionsbedingungen eines angemessenen Wissens vom Wissen aus Hegels Sicht eine historische Dimension haben.20 Aus diesem Grund verfolgt er in dem Nachvollzug der Einseitigkeit unterschiedlicher Konzeptionen eines Wissens vom Wissen einen Weg, der zu einem modernen Standpunkt führt: zu einem sich vollbringenden Skeptizismus.21

      Nachdem das Ziel des Hegelschen Projekts so weit umrissen ist, wendet sich Hegel der Frage der Methode zu und macht sich gewissermaßen selbst einen Einwand: Muss eine Untersuchung unterschiedlicher Arten und Weisen, Wissen zu verstehen, nicht auf eine Methode zurückgreifen? Wenn wir gesagt haben, dass es Hegel darum geht, die Wissensansprüche derer zu prüfen, die beanspruchen, etwas über Wissen zu wissen: Braucht eine solche Prüfung nicht bereits ein Wissen davon, wie Wissen richtig zu bestimmen ist, und in diesem Sinn einen Maßstab? In Hegels Worten klingt dieser Einwand folgendermaßen:

      Diese Darstellung als ein Verhalten der Wissenschaft zu dem erscheinenden Wissen, und als Untersuchung und Prüfung der Realität des Erkennens vorgestellt, scheint nicht ohne irgendeine Voraussetzung, die als Maßstab zugrunde gelegt wird, stattfinden zu können. (78/75)

      Hegel weiß, dass er aus der Perspektive von jemandem schreibt, der das Ziel bereits erreicht hat. Aus diesem Grund begreift er seine Darstellung als das »Verhalten der Wissenschaft zu dem erscheinenden Wissen«, und stellt sich vor die Frage, ob er nicht immer schon seine Erkenntnisse als Maßstab einbringen wird, wenn er irgendwelche Konzeptionen davon, was Wissen ist, in ihren Ansprüchen prüft. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für das Verständnis des Vorgehens in dem Buch selbst. Hegel schenkt ihr im Rahmen der Einleitung auch fast die Hälfte des Platzes. Ich will sie in zwei Schritten resümieren:

      Der erste Schritt besteht darin zu verstehen, was Hegel meint, wenn er sagt, das Bewusstsein gebe »seinen Maßstab an ihm selbst« (80/76). Diese wichtige Formulierung erfordert erst einmal eine terminologische Klärung: »Bewusstsein« bedeutet, wissend zu sein. Ein Bewusstsein ist eine bestimmte Art und Weise, etwas zu wissen. Es ist hilfreich, hier den Begriff der Bewusstseinsgestalt einzuführen, der sich bei Hegel erstmals am Ende der Einleitung findet (vgl. 83/80) und der – im Anschluss an Hegels Diktion – in der Sekundärliteratur vielfach verwendet wird, um Hegels Vorgehen in der PhG zu erklären. Hegel handelt in seinem Buch, so kann man mit diesem Begriff sagen, von unterschiedlichen Bewusstseinsgestalten. Wir wissen bereits, dass diese Bewusstseinsgestalten jeweils unterschiedliche Ideen davon haben, was Wissen ist und wie man es haben kann: Sie vertreten ein unterschiedliches Wissen vom Wissen. Ich will für solche Ideen einen knappen Begriff einführen, den ich den gesamten Kommentar über verwenden werde, nämlich den Begriff der Wissenskonzeption. Jede Bewusstseinsgestalt vertritt eine spezifische Wissenskonzeption.

      Wir können damit erste wichtige Konturen für den Gang der PhG festhalten: Dieser Gang bietet eine Abfolge von Bewusstseinsgestalten, also Wissenskonzeptionen. Bewusstseinsgestalten sind also nicht irgendwelche historisch realisierten einzelnen Bestände von Wissen (zum Beispiel der christliche Schöpfungsglaube oder die Newtonsche Physik). Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Verständnisse von Wissen – um unterschiedliche Theorien davon, was Wissen ist.

      Hegel schlägt nun plausiblerweise vor zu sagen, dass eine Wissenskonzeption (eine Bewusstseinsgestalt) immer zwei Momente umfasst: Einerseits hält sie etwas Bestimmtes für Wissen, und andererseits bezieht sie sich mittels dieses Wissens auf etwas (sie hat das Wissen, das sie hat, von etwas). Sie erhebt einen Wissensanspruch und hat einen Gegenstand, auf den sie sich mit diesem Wissensanspruch bezieht. Jede Wissenskonzeption vertritt eine bestimmte Auffassung davon, wie Gegenstände, in Bezug auf die wir zu Wissen gelangen können, zu verstehen sind, und davon, was es heißt, in Bezug auf diese Gegenstände Wissen zu haben. Kurz gesagt: Eine Wissenskonzeption ist immer als eine Verbindung von einem Wissensanspruch und einer Gegenstandsauffassung zu verstehen (auch diese Begrifflichkeit werde ich im Kommentar immer wieder verwenden). Hegel sagt nun, dass wir diese beiden Seiten, die in einer Bewusstseinsgestalt notwendig zusammenhängen, jeweils als Maßstäbe füreinander verstehen können. Wir können sagen, dass die Auffassung von Gegenständen der Maßstab dafür ist, dass Wissensansprüche (»der Begriff«) eingelöst werden oder scheitern. In Hegels Worten:

      Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber das Seiende oder den Gegenstand, so besteht die Prüfung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. (80/77)

      Wir können aber auch den Wissensanspruch als den objektiven Maßstab verstehen und entsprechend ihn vom Gegenstand her verstehen, so dass die Gegenstandsauffassung sich als das erweist, was an einem verfolgten Wissensanspruch scheitern kann. Wiederum in Hegels Worten:

      Nennen wir aber das Wesen oder das An-sich des Gegenstandes den Begriff, und verstehen dagegen unter dem Gegenstande, ihn als Gegenstand, nämlich wie er für ein anderes ist, so besteht die Prüfung darin, dass wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriff entspricht. (80/77)

      Die zwei Momente, die in jeder Wissenskonzeption zusammenhängen, prüfen sich, so verstanden, wechselseitig. Die Gegenstandsauffassung bildet einen Prüfstein des erhobenen Wissensanspruchs und dieser Anspruch den Prüfstein der Gegenstandsauffassung. Aus diesem Grund muss der Wissensanspruch, den eine Wissenskonzeption vertritt, nicht extern geprüft werden, sondern es kommt immer zu einer internen Prüfung. Diese Struktur wird uns den gesamten Text der PhG hindurch begleiten. Durchweg kommentiert Hegel Bewusstseinsgestalten in der Polarität, die zwischen den von ihr vertretenen Wissensansprüchen und ihren Gegenstandsauffassungen besteht.

      Damit ist klar, dass die Kenntnis des Ziels keine Voraussetzung für die Prüfung von Bewusstseinsgestalten im Sinne von Wissenskonzeptionen

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