Dem Kunden verpflichtet. Ingrid Gerstbach
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Es ist sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, dass ein einzelner Entscheidungsträger ein komplexes System in seiner Ganzheit erkennt und versteht. Das ist das eigentliche Problem: aus einer großen Zahl von verschiedenen Elementen die unterschiedlichen Beziehungen von einem bestimmten Standpunkt aus nicht nur zu sehen, sondern diese auch zu verstehen.
Ich hatte schon in einigen Beratungen die Ausgangssituation, dass Projekte schiefgelaufen sind, weil die hierarchische Struktur dazu führte, dass die Mitarbeiter mehr oder minder in Silos eingesperrt waren und so wichtige Informationen gar nicht an diejenigen weitergeben konnten, die letztlich die strategischen Entscheidungen trafen. Solche fatalen Situationen, die aufgrund von fehlenden Informationen entstehen, führen in den allermeisten Fällen zu extrem schlechten Entscheidungen, die für das gesamte Unternehmen weitreichende Folgen haben.
Es ist ein Irrglaube, wenn wir meinen, wir würden die Auswirkungen unserer Handlungen bzw. der Handlungen anderer wirklich in ihrer vollen Tragweite verstehen. Die meisten Führungskräfte sind der Meinung, dass sie viele Informationen aufnehmen und daraus sofort die richtigen Schlussfolgerungen ziehen können. Infolgedessen handeln sie oft sehr schnell und nicht genügend überlegt. Wichtige Entscheidungen werden getroffen, ohne die wahrscheinlichen Folgen für das System vollständig verstanden zu haben.
Aber es ist nicht nur so, dass die meisten von uns nicht in der Lage sind, rein kognitiv so viele Informationen aufzunehmen. Selbst wenn wir dieses Potenzial hätten, würden wir spätestens an einer anderen Sache scheitern: nämlich an unserer Konzentration. Studien zeigen, dass Menschen einfach nicht multitaskingfähig sind. Forscher am Institut für Psychiatrie an der Universität London stellten in einer Studie1 mit 1100 Teilnehmern fest, dass Multitasking zu einer stärkeren Abnahme des IQ führte als der Konsum von Marihuana oder Schlafverlust. Natürlich ist die Versuchung, Multitasking zu betreiben, in der heutigen technisierten Welt höher als je zuvor. Und das ist ein großes Problem, denn infolge des Konzentrationsmangels sind wir weniger effizient oder effektiv, als wir uns erhoffen.
Dazu kommt noch, dass es besonders schwierig wird, gute Entscheidungen zu treffen, je seltener bestimmte Ereignisse eintreten. Erst die Wiederholungen ermöglichen das Wissen darum, was genau passiert und inwiefern die einzelnen Elemente das System beeinflussen. So verläuft der Straßenverkehr in der Regel in einem überschaubaren System, das sich kontinuierlich an Veränderungen anpasst. Diese Anpassungsfähigkeit ist nur möglich, weil Menschen im System Muster erkannt haben, die im Laufe der Zeit entstanden sind bzw. die erst dann sichtbar werden, wenn es zu einer anderen Ausführung als der geplanten kommt. Wenn das System nun mit einem seltenen Ereignis konfrontiert wird, wie beispielsweise einer Eruption oder einem Hurrikan an Orten, die sonst nicht mit solchen Phänomenen zu tun haben, ist das System überfordert.
Umgang mit komplexen Systemen
Lassen Sie uns weitere Besonderheiten bei der Analyse von komplexen Situationen näher ansehen.
Prognosetools
Manager, die mit komplexen Systemen konfrontiert sind, können verschiedene Schritte unternehmen, um ihre Vorhersagefähigkeiten zu verbessern. Ein solcher Schritt liegt im Abschied von Prognosetools: Viele analytische Hilfsmittel suggerieren, dass Beobachtungen von Phänomenen unabhängig sind. Das stimmt in gewissen Fällen für einfache bzw. komplizierte Systeme, gilt aber niemals bei komplexen Systemen. Denn gerade in diesen komplexen Systemen sind die einzelnen Elemente stark miteinander verbunden. Ein Beispiel dafür ist der Schmetterlingseffekt: Wenn Sie etwas im Kleinen anstoßen, können Sie so eine Kette von Ereignissen auslösen, an deren Ende eine enorme und meist unvorhersehbare Konsequenz steht.
Nehmen Sie Ausreißer als Hinweise wahr. Während bei alltäglichen Phänomenen und Systemen die Vorhersehbarkeit sehr gut ist, haben komplexe Systeme eine ausgesprochen schlechte Vorhersagbarkeit. So produziert ein komplexes System unerwartete Ergebnisse, die scheinbar aus dem Nichts kommen (wie zum Beispiel eine Massenpanik oder Marktzusammenbrüche auf Kapitalmärkten). In der Medizin gibt es Dutzende gute Beispiele dafür: Nehmen wir mal die Zulassung von neuen Medikamenten. Bei manchen Medikamenten kommt es zu Wechselwirkungen, die Probleme verursachen. Wenn nun klinische Studien einige potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen bei einer gewissen Gruppe an Patienten zeigen, bedeutet das nicht automatisch, dass dies beim statistisch durchschnittlichen Patienten ebenso wäre. Die Behandlung von noch weitgehend unerforschten Krankheiten ist ein sehr komplexes System, auf das auch so reagiert werden muss – und auf das nicht die Logik eines komplizierten Systems angewendet werden kann. Komplexe Systeme treffen häufiger auf Ereignisse, die weiter vom Durchschnitt entfernt sind, als wir denken. Analyseprogramme, die Ausreißer nicht beachten bzw. als selten einstufen, verschleiern dadurch auch die vielen Variationen, die es in komplexen Systemen gibt.
In der Wirtschaft findet sich das Problem der Vorhersagbarkeit vor allem beim Kundenverhalten. Oft wird nach Durchschnittsantworten gesucht, auf deren Basis dann Vorhersagen getroffen werden. Dabei wäre mancher Ausreißer interessanter als der Durchschnittsfall (siehe Methode »Extreme User« in Kapitel 4). Bei komplexen Problemen und Herausforderungen, die uns in unserem normalen Alltag sonst nicht begegnen, stoßen wir auch auf ein Verhalten, das nicht »normal« ist. Wie zum Beispiel bei einem Beratungsfall, bei dem ich beobachten konnte, was passiert, wenn auf Probleme mit Panik reagiert wird. Um negative Publicity zu vermeiden, entschied sich der Aufsichtsrat eines großen Unternehmens, aufgetretene Qualitätsprobleme so weit wie möglich zu vertuschen. Ein Fehler, wie sich später gezeigt hat. Denn hätte das Unternehmen verstanden, dass die seinerzeit sichtbaren Qualitätseinbußen auf tiefere Probleme hinwiesen, hätte es das viele Geld, das es in die Vermeidung einer Publikation über dieses Problem gesteckt hat, besser in die Verbesserung investiert und dadurch sogar neue Märkte erschließen können.
Das Verhalten innerhalb eines Systems
Anstatt von Medianen oder anderen für den entsprechenden Kontext irrelevanten Zahlen auszugehen, suchen Sie nach Modellen, die Ihnen einen wirklichen Einblick in das System und die Art und Weise geben, wie die verschiedenen Elemente miteinander interagieren. Beispiele hierfür sind Customer-Relationship-Management-Systeme. Damit können Sie sehen, wie der Kunde auf verschiedene Arten von Werbung reagiert. Wenn Sie solche Systeme nutzen, dann achten Sie vor allem darauf, dass das Prognosetool auch extreme Beispiele mit geringem Wahrscheinlichkeitseintritt und hoher Auswirkung berücksichtigt. So haben Komplexitätsforscher beobachtet, dass jedes Jahr in Kalifornien rund 16 000 kleinere Erdbeben auftreten, aber ein wirklich großes Erdbeben allenfalls alle 150 bis 200 Jahre passiert. Das durchschnittliche Erdbeben ist also nicht sehr gefährlich. Dennoch wäre es ein schlechter Rat, deswegen Bauvorschriften auf das durchschnittliche Erdbeben auszurichten. Derselbe Grundsatz gilt auch im Innovationsmanagement: Was am wichtigsten ist, ist immer das Extreme mit der unwahrscheinlichsten Umsetzung – nicht das Wahrscheinlichste.
Drei Arten von Vorhersagetechniken
Wenn es unmöglich ist, die Zukunft in einem komplexen System genau vorherzusagen, aber Unternehmen trotzdem wissen müssen, welche Entscheidung zukünftig die beste sein wird, was sollen Führungskräfte dann machen? Wie können sie den Spagat zwischen den unwahrscheinlichsten und den wahrscheinlichsten Szenarien schaffen? Wie können sie sich auf einen Weg einigen, ohne zu sehr auf vergangenes Wissen zu setzen?
Ich empfehle Managern, explizit