Michael Bakunin und die Anarchie. Ricarda Huch

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Michael Bakunin und die Anarchie - Ricarda Huch

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Aristokratie verdrängt und das Bürgertum an ihre Stelle gesetzt; die Herrschaft des Grundbesitzes, die Stütze der alten Welt, war durch die Herrschaft des Geldes, die Stütze der neuen Welt, ersetzt worden. Inmitten der Bewegung aber tauchte etwas Neues, ganz anderes auf, die Idee des Gemeinbesitzes, verfochten von dem Träger eines uralten Adelsnamens: Saint-Simon. Wieder ging aus dem Adel ein Rächer des von ihm begangenen Unrechts hervor. Ein Grandseigneur, unternehmend, phantastisch, abenteuernd, wurde er nach vielen Schickungen und Würfen Prophet einer neuen Lehre, eines neuen Glaubens. Es war kein anderer als das Christentum, das nun endlich verwirklicht werden sollte. Wie Hegel empfand auch Saint-Simon die Sehnsucht nach organischem Leben, nachdem die kritische Periode, so nannte er sie, die im Zeitalter der Reformation begann, im Individualismus des achtzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte. Saint-Simon setzte ihr den Sozialismus, die Vereinigung aller menschlichen Interessen, entgegen. Den Nichtbesitzenden, den Arbeitern galt seine Sympathie, und um ihnen zu der ihnen gebührenden Stellung zu verhelfen, griff er namentlich die freie Konkurrenz und das Erbrecht an. Die Julirevolution, welche den Sieg der Bourgeoisie bedeutete, enthüllte zugleich den vollendeten Saint-Simonismus. Die Unbestimmtheit dieser Lehre, ihr Reichtum an neuen Ansichten, ihre Kühnheit, ihre Systemlosigkeit, der Schwung ihrer Gläubigkeit machten ihre Kraft aus und sicherten ihre Wirkung auf ideale Gemüter.

      Namen bezeichnen oft geringere Gegensätze, als man meint. Was Herzen und Bakunin unterschied, waren nicht so sehr die Ideen, als daß Bakunin bis dahin sie in Beziehung auf den einzelnen gehegt hatte, während es Herzen um die Anwendung im öffentlichen Leben zu tun war. Sie verständigten sich bald, auch mit Bjelinski, und wurden engverbundene Kämpfer unter der gleichen Fahne.

      Mit den russischen Romantikern, die sich später Slawophilen nannten, gab es mehr Gegensätze als Berührungspunkte; in der ersten Zeit aber erfreute man sich beider, da im Disput die Meinungen sich klärten und vertieften.

      Die Slawophilen teilten den Abscheu der anderen gegen die in Rußland herrschenden Zustände, Leibeigenschaft und Beamtendespotie. In dem Zwiespalt zwischen der zwangsweise eingeführten Zivilisation Peters des Großen und dem barbarischen Volke stellten sie sich ganz auf die Seite des letzteren. Da nun Peter der Große die Zivilisation aus dem Westen geholt hatte, mußte der Westen Quell alles Bösen sein, woraus sie folgerten, daß im russischen Volke alles Gute daheim sei. Sie meinten, wenn man nur den deutschen und französischen Einfluß ausschalte und sich auf das Einheimische beschränke, so müsse Rußland ein harmonisches, glückliches und mächtiges Reich werden. Sie vergaßen, daß die Leibeigenschaft schon vor Peter dem Großen begründet und daß nicht er der erste Despot in Rußland war. Man kann vielmehr aus der Tatsache, daß in Preußen Zentralisation und Beamtenherrschaft weit stärker sind als im übrigen Deutschland und daß Preußen namhafte slawische Bestandteile hat, den Schluß ziehen, der Despotismus sei im Slawentum begründet, nicht im Deutschtum. Das väterlich wohlwollende Zarenregiment, von dem die Slawophilen träumten, hatte es tatsächlich in Rußland nie gegeben, außer in der Einbildung der russischen Bauern, die beharrlich daran festhielten. Wie die deutschen Romantiker vergnügten sich die russischen an dem erdichteten Bilde einer trauten Vergangenheit, die sie mit der widerwärtigsten und widersprechendsten Gegenwart zu verschmelzen wußten. Auch die starre byzantinisch-russische Kirche, die das in Rußland reichlich quellende religiöse Leben hart und verständnislos unterdrückte, verklärten sie und machten sich zu Helfershelfern Nikolaus' des Ersten, der die Sekten, welche bis dahin sich ziemlich ungestört hatten entwickeln können, zugunsten leichterer Beherrschbarkeit und Ordnung verfolgte. Die russischen Romantiker betätigten ihre Überzeugung durch die Beobachtung kirchlicher Zeremonien, Kreuzschlagen und Bücken vor Heiligenbildern sowie durch das Tragen verschollener altrussischer Trachten, in welcher Verkleidung das Volk sie für Perser hielt. Die bekanntesten unter ihnen waren die Brüder Aksakow, Söhne des Verfassers jener Familienchronik, in welcher allerdings das eigentümlich Russische in wundervollen Figuren und Bildern ausgeprägt ist.

      Von allen denjenigen, die diesen Kreisen angehörten, ist im Westen keiner so bekannt geworden wie der Dichter Iwan Turgenjew. Er war eine beschauliche Natur, politische und soziale Probleme interessierten ihn nicht sehr; die Greuel der Leibeigenschaft aber drangen so sehr in das Leben aller ein, daß jeder sich damit auseinandersetzen mußte, und er verabscheute sie wie die übrigen. In seinem Leben spielte Frauenliebe die größte Rolle wie auch in seinen Romanen. Ein unbeschreiblicher Zauber geht von der Natur und von der Liebe aus, wie er sie darstellt, immer von Wehmut und Verzicht beschattet. Sein Schicksal wurde bestimmt durch die Sängerin Viardot-Garcia, die in glücklicher Ehe verheiratet war und deren Haushalt er sich anschloß. Aus einer früheren Verbindung mit einem russischen Mädchen in untergeordneten Verhältnissen hatte er eine Tochter, für die er auch pflichtgemäß sorgte; aber sein Herz gehörte den Kindern der Frau Viardot-Garcia. Wie Michel hatte er eine hohe, mächtige Gestalt, auf die seine Leibeigenen stolz waren, wenn sie ihn die Menge überragen sahen; aber er besaß nicht dieselbe strotzende Gesundheit, sondern litt frühzeitig an Podagra und hatte überhaupt trotz ängstlicher Pflege immer über irgend etwas zu klagen. Seine großen, dunklen, traurigen Augen waren von unwiderstehlicher Schönheit; in ihnen las man vielleicht, daß er nicht an das Glück glaubte, überhaupt nicht glaubte und eben darum nie glücklich war.

      Worin die Westler und die Slawophilen, die Herzen »unsere Freunde, die Feinde« zu nennen pflegte, einander begegneten, das war die Verehrung der russischen Bauerngemeinde, des Mir. Und nun komme ich auf das zu sprechen, was Michael Bakunin aus seiner eigenen Heimat an bildenden Einflüssen zugeströmt war.

      4.

       Russische Einflüsse auf Bakunin

       Inhaltsverzeichnis

      In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde Rußland, über das bis dahin nur legendarische Nachrichten im Westen verbreitet waren, verschiedentlich bereist und beschrieben. Am bekanntesten und wirkungsvollsten waren zwei Bücher: das eines Franzosen, des Marquis de Custine, und das eines westfälischen Edelmannes, August von Haxthausen. Custine beschränkte seine Kenntnis auf den Hof und die Beamtenkreise, die ihn umgaben; Haxthausen, ein Zögling der deutschen Romantik, interessierte sich hauptsächlich für das Volk und das Volkstümliche. Custine sah in den Russen hauptsächlich die Affen der westlichen Zivilisation, die sie äußerlich nachahmten, ohne von ihrem Wesen berührt zu werden. Er sprach ihnen originale schöpferische Begabung ab. Von seinem Standpunkt aus, der mehr der des Aristokraten des Ancien régime als der des Liberalen war, beleidigte ihn die doppelte Veranlagung der Russen zu Willkür und Grausamkeit auf der einen, zur Unterwürfigkeit auf der anderen Seite. Es ekelte ihn fast ebenso vor den Getretenen wie vor den übermütigen Herren, die er zu beklagen geneigt war, da sie ja in gewisser Hinsicht die Opfer würdeloser und markloser Demut wären. Die Vergötterung eines Menschen, des Zaren, war in seinen Augen ein Zeichen von Irreligiosität; mit Entrüstung sah er das Gebot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, in Rußland vergessen. Diese überall hervorbrechende Gesinnung verleiht dem Buche von Custine Glanz und Schwung.

      Haxthausen, eine beschaulichere Natur und Romantiker, berührte die Verhältnisse der Leibeigenschaft möglichst schonend und spürte dem innerhalb der Sklaverei erhaltenen eigentümlichen Volksleben nach. Auf die Begleitung und Führerschaft gebildeter Russen angewiesen, lernte er das Land wohl von der günstigsten Seite kennen; indessen auch unparteiische Russen bestätigten das Zutreffende seiner Schilderungen. Es war die Zeit, wo in Frankreich und Deutschland sich zum ersten Male kommunistische Ideale verbreiteten, im allgemeinen Abscheu und Entrüstung erregend; nun erfuhr Haxthausen zu seinem Erstaunen, daß in der russischen Bauerngemeinde ein kommunistisches Ideal verwirklicht war ohne den Beigeschmack des Verworfenen und Unsinnigen, den die Bourgeoisie damit zu verbinden pflegte. Haxthausen beobachtete und schilderte die russische Bauerngemeinde, Mir genannt, welche auf dem Gemeinbesitz von Grund und Boden beruht; er schilderte, wie das Land nach gemeinsamem Beschluß stets neu verteilt wird in der Weise, daß die Kopfzahl und die Beschaffenheit der Familie in Betracht gezogen wird. Es fiel ihm auf, wie willig

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