Michael Bakunin und die Anarchie. Ricarda Huch
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Wenn liberal denkende Russen die deutsche Grenze überschritten hatten, pflegte sie alles, was sie wahrnahmen, zu entzücken, obwohl der Unterschied in Preußen zunächst noch nicht so augenfällig ist. Gewöhnlich hatte es unendliche Schwierigkeiten und Umschweife gekostet, den Paß zu erlangen, bis zum letzten Augenblicke fürchtete man irgendein Hindernis, nun atmete man endlich frei und leicht. Auch Michael Bakunin empfing von Berlin den angenehmsten Eindruck. Er litt nicht wie Jakob Burckhardt unter dem schlechten Essen und dem beschränkten Raum, in dergleichen Dingen war er leicht zufriedenzustellen: Er rühmte die Theater, die Universität, die Cafés, das billige Leben. Es kam ihm zugute, daß er die deutsche Sprache schon ziemlich beherrschte, bald sprach er sie fließend, wenn auch mit fremdem Akzent. In der Gesellschaft wurde er gut aufgenommen; der alte Varnhagen, der jeden seiner Besuche in seinem Tagebuche vermerkte, verliebte sich fast in den eigenartigen Fremdling. Professor Werder jedoch, der Dozent der Philosophie, an den Bakunin durch Stankjewitsch empfohlen war, enttäuschte. Werder hatte gute Einfälle und konnte die Dinge von einer neuen Seite betrachten, auch in eine gewisse Tiefe gehen, so daß man sich durch seine Vorträge angenehm erregt und erhoben fühlte; aber das befriedigte Michel nicht, wie liebenswürdig und auszeichnend der Professor ihn auch behandelte. Überhaupt gewann er Deutschland gegenüber einen ganz anderen Standpunkt, als er in Rußland gehabt hatte.
Er kannte Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, E. T. A. Hoffmann: Sie bedeuteten eine Welt von Schönheit und Freiheit für ihn, in die er sich aus der Welt der Alltäglichkeit und des Zwanges, die ihn umgab, gerettet hatte. Es schien ihm selbstverständlich, daß er den Gehalt dieser deutschen Dichtung im deutschen Leben finden würde; anstatt dessen sah er zahme, vorsichtige Menschen in sauber gepflegter, hübsch verzierter Umgebung, irgendwelchen vorgeschriebenen Beschäftigungen oder einem geordneten, unschädlichen Müßiggang ergeben; vor einer pedantischen, uniformierten, leicht gereizten und knurrenden Regierung sich duckend. Die Gebildeten schwärmten für Goethes Götz und Schillers Räuber, für griechische Freiheit und römische Republiken; aber wenn ihre Ideale ihnen im Leben begegnet wären, so hätten sie sie der Polizei angezeigt oder wären vor ihnen davongelaufen. »Die Deutschen«, schrieb Michel deshalb, »sind schreckliche Philister; wenn der zehnte Teil ihrer reichen geistigen Erkenntnis ins Leben übergegangen wäre, wären sie prächtige Leute; aber bis jetzt sind sie leider ein sehr lächerliches Volk.« Herzen äußerte sich später über die Deutschen, daß sie sich gewöhnt hätten, zu meinen, es sei mit der bloßen Erkenntnis schon etwas gewonnen. Diese Wut, die Dinge zu formulieren und dann befriedigt zu sein, als wären sie schon getan, hat seitdem noch zugenommen. Auch fand er, daß ihr Sybaritismus ihnen im Wege stehe, der nur wegen ihrer geringen Mittel weniger auffalle. In der Tat hängt der Deutsche sehr an seiner häuslichen Gewohnheit und Behaglichkeit, und wenn diese auch nicht in Sekt und Austern, sondern in Kaffee und Butterbrot gipfelt, so ist der Genuß dieser Mittelstands-Sybariten ebenso groß und ebenso einschläfernd als der des lukullischen Schlemmers, ja vielleicht folgenschwerer, weil er das tägliche Leben beherrscht. In keinem Volke ist die Klasse der Spießbürger so zahlreich wie in Deutschland und in keiner Stadt so ausgeprägt wie in Dresden. »Dresden, das Land der Kuchenfresser«, so schilderte es Robert Prutz, »die verwaschenste, farbloseste, butterweichste Generation, die es in Deutschland gibt; Volk wie nasser Schwamm, nicht Welf, nicht Gibelline, bloße träge Maulaufsperrer, die immer noch glauben, das alles geschehe bloß ›draußen‹ und bloß damit sie zu ihrem schlechten dünnen Kaffee alle Morgen eine interessante Zeitung zu lesen haben.« Dahin ging Bakunin, als er von Berlin genug hatte, ohne zu ahnen, wie verhängnisvoll die gemütliche Residenz ihm einst werden sollte.
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