Goettle und die Blutreiter. Olaf Nägele
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Seegmüller legte die Reliquie vorsichtig zurück in den Glaskasten und stürmte zum Ausgang. Es dauerte einen Moment, bis er den Schlüssel zum Tor der Basilika fand. Mit fahrigen Fingern nestelte er ihn hervor, steckte ihn ins Schloss. Draußen hörte er Schritte, die sich eilig entfernten, unterdrücktes Gekicher. Er riss die Tür auf, konnte jedoch nur die Umrisse zweier Gestalten erkennen, die im Schutze der Dämmerung verschwanden.
»Stehen bleiben!«, keifte er, rannte den Flüchtenden ein Stück weit hinterher, trat auf einen Gegenstand, der unter seiner Sohle wegrollte und ihn zu Fall brachte. Er gab ein quiekendes Geräusch von sich, schlug hart mit dem Hinterkopf auf einer Stufe der Kirchentreppe auf und verlor das Bewusstsein.
Der Gottesmann bekam also nicht mit, wie der Schatten die Basilika eilig verließ und von der hereinbrechenden Nacht verschluckt wurde.
Als Sebastian Seegmüller Minuten später wieder erwachte, sich aufrappelte, seinen Hinterkopf betastete und ungläubig die klebrige Flüssigkeit auf seinen Fingern betrachtete, durchfuhr ein Gedankenblitz das Gewölk des Schmerzes. Benommen, hinkend und ächzend eilte er in die Kirche, hin zum Altar. Er erstarrte: Der gläserne Schrein, der normalerweise das Kostbarste beherbergte, was Weingarten besaß, war leer. Die Reliquie des Heiligen Blutes war verschwunden.
»Also, wenn ihr mi nemme brauchet, gang i jetzt.«
Polizeiobermeister Ernst Fritz legte zwei Finger an eine imaginäre Mütze, nickte seinen Kolleginnen zu, nahm seine Aktentasche vom Schreibtisch und schritt zur Tür.
»Eine gute Zeit und viel Spaß beim Blutritt. Ein bisschen neidisch bin ich, das muss ich zugeben«, erwiderte Kommissarin Laura Behrmann. Sie lächelte ihren Kollegen an, der bedauernd die Schultern hob.
»I dät mi freia, wenn Sie dabei wäret, Laura. Aber Sie wisset jo, Fraua dürfet net mitreita.«
»Wieso eigentlich nicht? Ich muss gestehen, diese ganze Blutrittgeschichte ist mir völlig fremd«, mischte sich Hauptkommissarin Greta Gerber in das Gespräch ein. Sie tippte den letzten Satz ihres Protokolls, sah vom Bildschirm auf und musterte den Kollegen. Er strahlte eine gewisse Vorfreude aus, seine sonst eher knorrige Art war einer lebhafteren gewichen. Seit Tagen sprach er mit zunehmender Begeisterung von dem Ereignis, ließ sie an seiner Freude teilhaben. Die Hauptkommissarin konnte dies nicht nachvollziehen. Obwohl sie schon mehrere Jahre in Biberach lebte, hatte sie nie genug Zeit gefunden, um sich mit diesem oberschwäbischen Brauch auseinanderzusetzen.
»So will’s die Tradition«, nuschelte POM Fritz, dem anzusehen war, wie unangenehm er das Thema fand. »Wega mir könntet Fraua mitreita, aber die katholische Kirche isch da ja a bissle oiga und vielleicht au a bissle rückständig.«
»Das kann man wohl sagen. Deswegen bekommt die katholische Kirche mächtig Druck von Institutionen wie Maria 2.0«, fiel ihm Laura Behrmann ins Wort.
»Maria 2.0? Klingt nach einem Computerspiel mit christlicher Mission. Wer die meisten Kinder unbefleckt empfängt, hat gewonnen«, spöttelte Hauptkommissarin Gerber und wandte sich dem Papierstapel zu, den sie neben ihrem Laptop angehäuft hatte. »Protokolle, nichts als Protokolle. Und ausgerechnet jetzt nehmen Sie Urlaub, Herr Fritz«, seufzte sie und öffnete eine Akte.
»Von wegen Computerspiel«, ereiferte sich Laura Behrmann und strich sich energisch eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Das sind gläubige Damen aller Altersklassen, die sich für die Rechte der Frauen in der katholischen Kirche einsetzen. Im Mai 2019 haben die sogar zum Streik aufgerufen. Die besuchten keinen Gottesdienst mehr, verweigerten Gemeindeaufgaben und haben mit Informationsständen vor den Kirchen auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht.«
»Jaja, schon gut.« Greta Gerber winkte ab. Sie war nicht sonderlich gläubig und setzte sich wenig mit Religion auseinander. Ihr einziger Berührungspunkt mit klerikalen Belangen bestand darin, dass sich Biberachs Gemeindepfarrer Andreas Goettle ungefragt in polizeiliche Ermittlungen einmischte und immer wieder auf dem Polizeirevier auftauchte, um Missstände anzuprangern. Und auch wenn sie dem rührigen Gesellen einen gewissen Erfolg als detektivische Spürnase zusprechen musste, wäre es der Hauptkommissarin lieber, wenn er sich aus ihrer Arbeit heraushalten würde.
»Bemühen Sie sich nicht, Laura. Ich kapiere diese Diskussionen eh nicht und halte sie nicht für zeitgemäß. Und irgendwie habe ich den Eindruck, dass dem Blutritt etwas Mittelalterliches anhaftet. Klingt ein bisschen nach Kreuzzug.«
Polizeiobermeister Fritz lief rot an, die Spitzen seines Schnurrbarts zitterten vor Erregung. »Ha, so bled … So darf mr net davon schwätza. Der Blutritt isch a Prozession. Des genaue Gegateil von em Kreuzzug. Schließlich gilt die Reliquie für alle Katholika als vereinendes Symbol. Des isch an ganz großer Moment, wenn man den Sega vom Blutreiter kriagt. Des isch a Glaubensbekenntnis und macht oin au ehrfürchtig.«
»Schließlich enthält die Reliquie den mit Jesu Blut getränkten Boden von Golgatha«, ergänzte Laura Behrmann. Ihre Wangen waren gerötet, wie immer, wenn sie sich für ein Thema engagierte.
Greta Gerber sah ihre Kollegin fragend an.
»Sagen Sie bloß, Sie kennen die Geschichte nicht, die hinter dem Blutritt steckt. Also das ist eine ziemlich große Wissenslücke, wenn man hier in der Region wohnt.«
Der vorwurfsvolle Ton ihrer Kollegin ließ Greta aufhorchen.
»I erklär’s Ihne. Also ’s war ja so. Als der Jesus am Kreuz g’hanga isch …«, begann Polizeiobermeister Fritz mit seiner Erklärung, wurde jedoch von seiner Chefin schroff unterbrochen: »Bitte die Kurzfassung, Herr Fritz, ich habe zu tun.«
»Des kosch net kurz verzähla. Des isch a jahrhundertealte G’schicht«, maulte der Gemaßregelte beleidigt.
»Ich versuch es, so kurz es geht«, sprang Laura Behrmann ein. »Nachdem Jesus gekreuzigt worden war, stieß ihm ein römischer Legionär eine Lanze in die Seite, um sicherzugehen, dass er tot war …«
»Longinus hot der g’hoißa. So viel Zeit muas sei«, murrte Fritz, verstummte jedoch, als er von einer Büroklammer getroffen wurde, die Greta Gerber auf ihn abgefeuert hatte.
»Einige Blutstropfen liefen Longinus über das Gesicht und erleuchteten ihn. Er wurde gläubig. Daraufhin vermischte er einige Blutstropfen mit der Erde von Golgatha und füllte sie in ein Kästchen. Er wurde von den Aposteln getauft und reiste nach Mantua …«
»Des liegt in Italien.«
Greta Gerber sandte POM Fritz einen genervten Blick.
»Genau, er fuhr nach Mantua in Italien. Um dort die Lehre Christi zu verkünden. Das gefiel einigen Leuten nicht und so wurde er, wie viele Christen damals, verfolgt. Vor seinem Tod versteckte er das Kästchen und irgendwann entdeckte man einen Teil der Reliquie und Knochen von diesem Longinus …«
»1048 war des. Jetzt hot der Papst Leo g’sagt, des Heilige Blut g’hört nach Rom, aber die Leut in Mantua waret dagega …«
»Leute, echt«, ächzte die Hauptkommissarin. »Ich wollte die Kurzfassung. Also bitte, Laura. Wenn es möglich ist, fassen Sie die nächsten tausend Jahre in drei Sätzen zusammen.«
»Also gut: Ein Teil der Reliquie blieb in Mantua, der andere ging nach Rom. Dann kam Heinrich III. und erhielt einen weiteren Teil, vermachte ihn Balduin von Flandern, der schenkte ihn einer Verwandten, die übergab die Reliquie einem Abt des Klosters Weingarten.«
»Am Tag nach Christi Himmelfahrt war des, dem Blutfreitag.