Goettle und die Blutreiter. Olaf Nägele
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Читать онлайн книгу Goettle und die Blutreiter - Olaf Nägele страница 6
Seegmüller blieb einen Moment stehen, blickte ihn mit leeren Augen an, setzte seine Wanderung fort und warf die Arme theatralisch in die Höhe.
»Was sollen wir tun?«, presste er hervor. »Der Blutritt kann ohne die Reliquie nicht stattfinden. Außerdem ist sie Bestandteil des Altars. Die Vitrine kann nicht leer bleiben. Die Besucher werden Fragen stellen. Wir müssen sie finden! Doch wo sollen wir suchen? Was ist, wenn sie außer Landes ist? In den Händen dunkler Mächte? Es ist so furchtbar!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.
»Jetzt no net hudla. Seit geschdern fehlt das Heilige Blut und die Prozession findet in acht Tag statt. Des isch net viel Zeit, aber mir könnet die Reliquie finda, wenn mir ganz genau nochdenket. Also, no mol von vorn. Sie waret grad dabei, des Heilige Blut aus dem Altar zum hola, um es in der Tresor zum bringa. Dann hen Se a Geräusch vor der Kirch g’hört …«
»Ja. Als ob jemand eine Spraydose betätigt. In letzter Zeit haben wir öfter Schmierereien im Umfeld der Kirche. Angebliche Tierschützer werfen uns vor, dass die Pferde bei dem Blutritt leiden müssten. An der Lautstärke der Blasmusik, zudem sei das Gehen über das Kopfsteinpflaster nicht gut für die Gelenke der Tiere und, und, und. Verquerer Unfug. Ich habe also das Geräusch gehört, habe die Reliquie zurück in den Altar gelegt und bin nach draußen gerannt …«
»Ond hen vergessa, die Alarmolag wieder eizumschalta«, unterbrach Goettle die Erzählung Seegmüllers.
Der nickte stumm.
»Des war natürlich segglbleed … also net so guad. Was isch danoch passiert?«
»Na ja, es ging alles ganz schnell. Ich bin raus aus der Kirche, sehe diese beiden dunklen Gestalten fliehen, will hinterherrennen, trete auf eine Spraydose, komme zu Fall und dann herrschte Dunkelheit. Als ich wieder aufwachte, sah ich das offene Kirchentor. Mein erster Gedanke war: Ich muss nach dem Heiligen Blut sehen. Aber da war es schon weg.«
Andreas Goettle rieb sich über das Kinn. Die Schilderung des Weingartener Pfarrers ergab nicht sehr viele Anhaltspunkte für eine Ermittlung.
»Hen Se die Gestalta erkannt, die vor Ihne g’floha sen? Könntet des die Tierschützer g’wesa sei? Oder gibt’s no meh Leut, die was an die Kirchamauer sprühet?«
Seegmüller schüttelte den Kopf. »Nein, es war zu dunkel, ich habe niemanden erkannt. Ich könnte nicht mal sagen, ob es Männer oder Frauen waren. Sie hatten ja diese Kapuzenpullis an. Und die Tierschützer kenne ich nicht wirklich. Es gibt ein paar Studentinnen und Studenten der Pädagogischen Hochschule, die hin und wieder Flugblätter in der Stadt verteilen. Aber die haben mit den Schmierereien nichts zu tun. Das hat die Polizei herausgefunden. Ich habe ja wegen der Graffitis Anzeige gegen unbekannt erstattet.«
»Irgendwie kann i mir des au net vorstella, dass die so gewieft vorganget. Die oine lenket Sie ab ond die andere verstecket sich in dr Kirch, um die Reliquie zum klaua. Die hen ja net wissa könna, dass Sie die Alarmolag net wieder anstellet, bevor Se nauslaufet. Des passt net z’samma.«
Pfarrer Seegmüller heulte auf. »Ja, streuen Sie ruhig Salz in meine Wunden. Ich weiß, dass ich allein die Schuld an dieser Misere trage. Glauben Sie mir, ich würde alles dafür tun, diesen Fehler wiedergutzumachen.«
»Tja, des schlechte G’wissa müsset Se jetzt aushalta«, erwiderte Pfarrer Goettle und lächelte sanft. »Aber mol im Ernschd: Wer könnte Interesse an der Reliquie han oder könnte es sei, dass oiner den Blutritt verhindera will?«
Seegmüller ging um seinen Schreibtisch herum, zog eine Schublade auf, kramte eine Mappe hervor und warf sie vor Goettle auf die Schreibtischplatte. »Da drin sind alle Artikel, Briefe und E-Mails gesammelt, in denen sich Menschen negativ über die Prozession äußern. Genervte Autofahrer, deren Fahrzeuge in den letzten Jahren abgeschleppt wurden, weil sie sich nicht an das Parkverbot in der Innenstadt gehalten haben. Frauen, die sich darüber beschweren, dass sie nicht teilnehmen dürfen. Anwohner, die sich durch die Prozession in ihrer Ruhe gestört fühlen. Menschen, die keiner Kirche angehören und kein Verständnis für den Blutritt aufbringen können. Menschen, die einem anderen Glauben angehören und sich ausgeschlossen fühlen. Radikale Kirchenhasser, Wutbürger, Verschwörungstheoretiker, die gegen alles sind, und so weiter. Wenn Sie diese Papiere durchlesen, werden Sie denken, dass niemand den Blutritt will.«
Goettle blätterte in dem Papierstapel und zog einen Brief hervor, der aus Zeitungsbuchstaben verschiedener Größe zusammengesetzt war. »Wir bluten für den Blutritt«, stand dort geschrieben. »Aufruf zur Massen-De-Menstruation! Frauen Oberschwabens versammelt euch!«
Biberachs Pfarrer ließ kopfschüttelnd das Blatt sinken. »Des Schreiba könnt von meine ›Grüne Minne‹ sei. Des isch a Frauengruppe in Biberach, mit denne isch net zum spaße. Wenn die sich was in dr Kopf g’setzt hen, kennet die koi Pardon. Außerdem spennet die a bissle. Aber Diebstahl? Des isch eigentlich net die Art von de ›Minne‹.«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Seegmüller.
»Wenn Se vielleicht doch die Polizei eischaltet?«
Weingartens Stadtpfarrer sprang von seinem Stuhl auf, als hätte ihn jemand unter Strom gesetzt.
»Auf gar keinen Fall!«, polterte er. »Wenn die Polizei ermittelt, erfährt über kurz oder lang die Presse von dem Diebstahl. Und das macht ganz schnell in ganz Weingarten, ach was sage ich, in ganz Oberschwaben die Runde. Keine Reliquie, kein Blutritt. Das wäre eine Katastrophe für die gesamte Region.«
Goettle massierte die Schläfen. Er konnte es sich gut vorstellen, was eine solche Nachricht nach sich ziehen würde: Hotels würden massenhaft Stornierungen erhalten, die Ladengeschäfte würden Umsatzeinbußen hinnehmen müssen und das Image der Kirche würde unter dem Diebstahl immens leiden. Medien würden sich auf die Geschichte stürzen und sie ausschlachten. Den armen Seegmüller würden sie als Bruder Leichtfuß markieren, der nicht imstande war, auf die Kostbarkeit aufzupassen. Und es war damit zu rechnen, dass es für ihn berufliche Konsequenzen haben konnte. Die Diözese würde sich einschalten und Ermittlungen anstellen, der öffentliche Druck auf Seegmüller würde zunehmen und letztlich würde er zurücktreten müssen.
»Ond wie wär’s, wenn a Duplikat zom Einsatz käm? Zumindeschd für den Altar. Damit die Besucher koine Froga stellet.«
Seegmüller stutzte und sah sein Gegenüber nachdenklich an. »Für den Altar wäre das eine Notlösung. Den Blutritt können wir jedoch nicht mit einer Fälschung durchführen. Es geht schließlich um Gottes Segen, der den Menschen Trost und Hoffnung schenkt. Mit einer Replika kann das nicht gelingen, das wäre Betrug an allen Gläubigen.«
Goettle nickte. Er hatte selbst einige Male am Blutfreitag teilgenommen und die Kraft gespürt, die von der Prozession ausgegangen war. Er hatte sich einer Gemeinschaft zugehörig gefühlt, und als das Heilige Blut an ihm vorübergetragen wurde, war es, als würden Herz und Geist gleichzeitig berührt. »Sie hen natürlich recht. Mir machet des so: Fürs Erschde sperret mir den Zugang zum Altar und hänget a Tuch drüber. Mir saget, dass er saniert werda muas, ond dann solltet mir jemand finda, der an Reliquiar macha kann.«
»Nun, da gäbe es eine Lösung. Ich kenne jemanden, der in der Lage wäre, eine Kopie des Reliquiars anzufertigen. Ich fürchte allerdings, der Herr ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Und ehrlich gesagt möchte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten, geschweige denn ihn in diese Geschichte einweihen. Diesen Triumph gönne ich ihm nicht.«
Goettle