Goettle und die Blutreiter. Olaf Nägele
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Eine halbe Stunde später stand Andreas Goettle im Juweliergeschäft Trautwein in der Ochsengasse und wartete darauf, dass Georg Trautwein Zeit für ihn fand. An den Wänden des altmodisch wirkenden Ladens hingen kunstvoll gefertigte Kreuze, Bilder mit christlichen Motiven, zwischen den Vitrinen mit den Schmuckstücken standen Ikonen und Figuren von Schutzheiligen, die über die kostbaren Exponate wachten.
Der Inhaber des alteingesessenen Betriebs, ein gedrungener, grauhaariger Herr, den Andreas Goettle auf 70 Jahre schätzte, bediente ein junges Paar. Seegmüller hatte den Juwelier gut beschrieben, auch wenn er ihn mit Eigenschaften ausstaffiert hatte, die ihm etwas Diabolisches verleihen sollten. In Wahrheit handelte es sich bei Trautwein um einen gutmütigen, höflichen Gesellen, der zudem mit der Geduld eines Bahnschrankenwärters auf der Schwäbischen Alb ausgestattet war, wie Andreas Goettle während des Verkaufsgesprächs erfahren durfte. Der weibliche Part seines Kundengespanns hatte das Objekt der Begierde offensichtlich bereits für sich entdeckt, während sich beim maskulinen Teil die Freude in Grenzen hielt. Offensichtlich war der Preis des Herzensstücks der jungen Dame jenseits der finanziellen Schmerzgrenze des jungen Mannes.
»Schau doch, wie der Ring funkelt. Wie meine Augen«, versuchte sie, ihn zu überzeugen.
»Deine Augen funkeln nur, wenn du wütend bist«, gab er zur Antwort.
Trautwein lächelte milde und sagte nichts.
»Ach, bitte. Den oder keinen«, schob sie nach.
»Also gut: keinen«, parierte er.
»Ich kann Ihnen das Stück gern reservieren«, bemühte sich Georg Trautwein zu schlichten. »Sie überlegen in Ruhe und sagen mir Bescheid, wenn Sie sich für oder gegen den Ring entschieden haben.«
Er nahm das Schmuckstück und legte es in die Vitrine zurück. Die junge Frau verließ enttäuscht den Laden, ihr Galan folgte ihr mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.
»Du bist so ein Geizhals«, keifte sie im Hinausgehen. »Dabei hast du gesagt, dass du mir die Welt zu Füßen legst.«
»Hab ich ja gemacht, als ich noch Zeitungen austrug. Jeden Morgen habe ich dir die ›Welt‹ zu Füßen gelegt«, erwiderte er.
Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss. Durch das Schaufenster konnte Andreas Goettle beobachten, dass dieser Streit noch lange nicht beendet war.
»Ja, die Liebe. Sie darf halt nichts kosten. Was kann ich denn für Sie tun?«, wandte sich Georg Trautwein an ihn. Seine roten Backen standen in einem starken Kontrast zu den grauen Haaren, die er nach hinten gekämmt hatte. Im rechten Ohr steckte ein schwarzer Knopf mit einem goldenen Kreuz darauf. Das Schmuckstück wollte nicht recht zur Trachtenjacke und der Leinenhose mit Bügelfalte passen, verriet jedoch, dass der Juwelier ein Individualist war.
Biberachs Gemeindepfarrer musterte sein Gegenüber kurz und kam zu dem Entschluss, dass Trautwein ein Mensch war, dem er ohne Weiteres sein Geheimnis anvertrauen konnte. »I glaub, i hab ein sehr spezielles Anliega«, begann er. »Ond vielleicht wär’s besser, Sie sperret kurz den Lada zua. Die Sach sodd nämlich unter uns bleiba.«
»Das hört sich ja sehr spannend an. Und ich dachte, das eben Erlebte würde mein Highlight des Tages werden.« Der Juwelier zwinkerte Goettle zu.
»Noi, gwies net«, erwiderte er und begann zu erzählen.
Vorfreude.
Sie ist zunächst bar jeglichen Makels. Und dennoch ist sie ein zartes Gebilde, das Neider hervorbringt. Diese Missgünstigen setzen alles daran, dieses kleine, nicht bestätigte Glück anderer zu zerstören. Und freuen sich, wenn ihre Bosheits-Sprengköpfe explodieren und die Euphorie in Stücke reißen.
Zacharias Stuber war in einer solchen vorfreudigen Hochstimmung. Dieses Gefühl gehörte nur ihm, denn niemand ahnte, dass sein kleines Glück bald die Freude anderer vernichten würde. Er grinste breit, hob sein Glas Bier an den Mund, um es mit einem mächtigen Schluck zu leeren. Er winkte Rosalie zu sich, die an diesem Abend im Biergarten des Gasthauses Linde bediente, und bestellte ein weiteres Bier. Die hübsche Brünette, die mit einer kurzen schwarzen Lederhose und einem Tanktop bekleidet war, zwinkerte ihm zu. Zacharias war Stammgast und offensichtlich freute sie sich, dass er nicht mehr so trüb vor sich hin glotzte wie in den letzten Wochen.
Ja, seit ein paar Stunden betrachtete er sein Leben wieder in einem helleren Licht. Weil ihm der Zufall einen Joker zugespielt hatte und er nicht mehr stillschweigend zusehen musste, wie alles den Bach runterging.
Nein, wenn er ins Chaos stürzen sollte, wollte er andere mitreißen. Diesen Widerling Wollschläger zum Beispiel. Dem Vorsitzenden des Festausschusses der Blutreiter-Prozession galt sein besonderer Zorn. Dieser Schlappschwanz war an seinem persönlichen Unglück schuld, er hatte ihm den finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen.
Dabei hätte dieser Hanswurst froh sein können, dass sich Zacharias seiner Frau angenommen hatte, bevor sie vertrocknete wie eine Pflanze, die zu wenig gegossen wurde. Kim war eine Frau, die geliebt werden wollte, mit jeder Faser des Körpers. Sie war nicht irgendein Mitbringsel aus einem Thailand-Urlaub, das man in die Ecke stellen konnte und einstauben ließ. Das für die Küche und die Sauberkeit der Wohnung zuständig war und das man wie einen neuen Anzug vorführte, wenn einem danach war.
Genau das war es, was Wollschläger in ihr sah. Eine Köchin, eine Putzfrau und ein exotisches Schmuckstück, das er an- und ablegen konnte, wie es ihm passte.
Zacharias wiederum hatte ihr das Gefühl zurückgegeben, als Frau, als Liebhaberin begehrt zu sein.
Seit ihrer ersten Begegnung auf dem Stadtfest im August des letzten Jahres war Kim aufgeblüht: Aus der zarten verschlossenen Knospe war eine prachtvolle Lotusblüte geworden. Zacharias war sich sogar sicher, dass Wollschläger von der neu entfachten Leidenschaft seiner Frau profitierte. Kim hatte genug Liebe in sich, um zwei Männer glücklich zu machen, und Zacharias dachte nicht im Traum daran, die Ehe der beiden zu gefährden. In diesem Punkt hatte er mit ihr eine klare Abmachung getroffen. Sex ja, Beziehung nein. Anfangs hatte dieses Arrangement wunderbar funktioniert. Kim war zwar sehr anhänglich gewesen und hatte in ihm offenbar eine Art Retter gesehen, der sie aus den Fängen Wollschlägers befreien sollte. Zacharias musste des Öfteren sehr deutlich werden, damit sie begriff, dass sie nicht bei ihm bleiben konnte, wenn sie ihn in seiner Wohnung oder im Büro besuchte. Aber letztendlich hatte sie am Sex ebenso viel Spaß wie er, und Wollschläger machte es ihr wirklich leicht, ihm Hörner aufzusetzen. Er war selten zu Hause, hatte unzählige Termine, geschäftlich und privat. Kim konnte Zacharias besuchen, ohne dass ihr Mann davon etwas mitbekam. Und wenn er zu ihr kam, hatten sie Zeiten vereinbart, zu denen die Nachbarn bei der Arbeit waren oder mit der Familie vor dem Fernseher saßen.
Irgendwann hatte der Rausch der Hormone die Vorsicht gemeuchelt. Vielleicht war es der stetig wachsende Reiz gewesen, Wollschläger zu demütigen, indem Zacharias Kim im ehelichen Schlafgemach Orgasmen entgegentrieb, die ihr Gatte ihr nicht verschaffen konnte. Und so kam es, wie es kommen musste. Wollschläger kehrte an einem Abend früher als erwartet nach Hause zurück, weil eine Veranstaltung abgesagt worden war, und erwischte Zacharias und Kim, die gerade dabei waren, sich die Seele aus dem Leib zu vögeln.
Es war Sex, mehr nicht, und Zacharias wäre bereit gewesen, die Angelegenheit unter Männern zu regeln. Sicher, im Falle einer körperlichen Auseinandersetzung hätte der betrogene Ehemann sicher den Kürzeren gezogen, allerdings hätte man in Ruhe über alles reden können.
Aber