77 versteckte Orte in Berlin. Johannes Wilkes

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу 77 versteckte Orte in Berlin - Johannes Wilkes страница 9

77 versteckte Orte in Berlin - Johannes Wilkes

Скачать книгу

Schreck, als sich Lehrer und Schüler in der Aula versammelten. Wo war Madame Breguand? Wo war ihr Schutzengel, ihre Vertraute? Hatte sie die Schulglocke nicht gehört, stand sie vielleicht in der hintersten Reihe? Marlene stellte sich auf die Zehenspitzen, vergebens, das liebe Gesicht fehlte. Dann wurden pathetische Reden gehalten, von Reich und Ehre, vom Krieg, dem großen vaterländischen, der jetzt ausgebrochen war, vom Erzfeind Frankreich, den man bezwingen, von Paris, in das die deutschen Soldaten bald einmarschieren würden. Marlene fing an zu zittern. Plötzlich wurde ihr klar, warum ihre Lehrerin fehlte. Sie ist Französin. Deutschland kämpft gegen Frankreich. Deshalb fehlt sie. Weil sie zum Feind gehört.

      Ohnmächtig sank Marlene zu Boden. Man achtete nicht weiter darauf, schob es auf die schlechte Luft in der Aula, flößte ihr Wasser ein. Marlene war eines der ersten Opfer des Krieges. Sie hatte ihre beste Freundin verloren. Sie hasste den Krieg, hasste ihn von der ersten Minute, hasste die Soldaten, die singend durch Berlin zogen, die Frauen küssten, Blumen in ihre Gewehrläufe steckten. Die Schule wurde wieder zum Gefängnis. Aber Marlene fand ihren Weg in die Freiheit: Sie hielt Madame Breguand weiter die Treue, sprach weiter Französisch, auch wenn sie dafür jedes Mal zehn Pfennig in die Klassenkasse zahlen musste. Tief im Herzen bewahrte sie ihr Geheimnis, die Liebe zu Frankreich, zur sanften, vertrauten Sprache, zu einem Menschen, den sie liebte.

      Auguste-Viktoria-Schule

      Nürnberger Straße 63

      10787 Berlin

      13 Haber-Villa (Dahlem)

      Sie war nicht gleich tot. Der Schuss war ihr durchs Herz gegangen, noch lebend aber hatte man sie gefunden, in den Morgenstunden des 5. Mai 1915, auf dem Rasen vor dem Wintergarten ihrer Dahlemer Villa. Die Rettung kam zu spät. Clara Immerwahr starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, neben ihr der Armeerevolver ihres Mannes. Eigentlich trug sie seinen Namen, sie ist ja seine Ehefrau gewesen, die Frau eines der größten Chemiker seiner Zeit, Fritz Haber, seit 1911 Direktor des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie. Die Ehe ist unglücklich verlaufen, Fritz Haber, zwei Jahre älter, ebenfalls jüdischer Herkunft, hatte die Nähe einer anderen Frau gesucht, hatte am Abend zuvor bei einem Gartenfest intensiv geflirtet, als Clara ihn überraschte. Sie ist in ihr Zimmer, an ihren Schreibtisch, hat Abschiedsbriefe geschrieben. Dann nahm sie den Revolver und trat hinaus ins Freie.

      Später hieß es, die begabte Wissenschaftlerin, die erste deutsche Frau, die in Chemie promovierte, sei mit dem Kriegswahn ihres Mannes nicht klargekommen, damit, dass er seine Forschungen in den Dienst der Armee gestellt hatte, in einen teuflischen Dienst. Um die Franzosen an der Westfront in ihren Gräben zu töten, hatte er das Verfahren perfektioniert, Giftgas einzusetzen, Tausende junge Franzosen waren dabei ums Leben gekommen, elend erstickt. Aufgewühlt von dieser Nachricht hatte die Pazifistin protestiert, zum großen Ärger ihres Mannes. Hautnah hatte sie mitbekommen, wie das Gift wirkt, bei Tests in unmittelbarer Nähe der Dienstvilla waren Affen grauenvoll krepiert. Auch bekam sie das Bild der entstellten Leiche ihres Freundes Otto Sackur nicht aus dem Kopf; bei geheimen Forschungen an kriegswichtigen Sprengstoffen im Labor ihres Mannes war es zu einer Explosion gekommen. Liebeskummer, Enttäuschung, das Gefühl, als Ehefrau keine eigene Karriere machen zu können, der furchtbare Giftkrieg … es wird eine Melange von Gefühlen gewesen sein, die Clara Immerwahr in den Tod getrieben hat. Ob sie heute, hundert Jahre später, ihr Glück gefunden hätte?

13.1_63B_Tod_im_Morgengrauen_1.jpg

      Haber-Villa, Rasen vor dem Wintergarten

      Haber-Villa

      Faradayweg 8

      14195 Berlin

      14 Wohnhaus von Georg Dreyman (Friedrichshain)

      Ein Oskar. Für einen deutschen Film. Ein seltener Moment in der Filmgeschichte. Im Jahr 2006 wurde er dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck überreicht, für den besten fremdsprachigen Film des Wettbewerbs. Kaum einer, den dieses Meisterwerk nicht angerührt hätte. Es erzählt die Geschichte eines kleinen Schnüfflers, eines grauen, einsamen Menschen, des Stasi-Hauptmanns Gerd Wiesler, gespielt von Ulrich Mühe. Wiesler wird beauftragt, den als politisch unzuverlässig geltenden Theaterschriftsteller Georg Dreyman zu observieren. Hierzu verwanzt er dessen Wohnung und richtet eine Abhöranlage auf dem staubigen Speicher ein. Was Wiesler erst im Laufe der Zeit merkt: Es geht dem DDR-Kultusminister, der die Aktion initiiert, gar nicht um den Theatermann, es geht ihm um dessen Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland. Hinter ihr ist er her, sie will der feiste Mensch ins Bett kriegen. Fein gezeichnet wird der Charakter des im Leben der Anderen schnüffelnden Wieslers, wie er neugierig wird auf eine Welt, die ihm fremd ist, die Welt der Literatur und Musik, wie er Sympathie entwickelt für das Liebespaar, wie er anfängt, an seiner Arbeit zu zweifeln und sie dennoch pflichtgemäß erledigt, bis er beginnt, als unsichtbarer Geist in die Geschichte einzugreifen, den Verfolgten zu helfen und doch die Katastrophe nicht verhindern kann, den Tod der Schauspielerin. Versöhnlich dann die Schlussszene: Nach der Wende entdeckt Dreyman, der in der Wedekindstraße 21 wohnt, dass man ihn überwacht hat. Mithilfe seiner Stasi-Akte identifiziert er Wiesler, der sich sein Geld mit dem Austragen von Wurfsendungen verdient. Dreyman beobachtet Wiesler, nimmt keinen Kontakt zu ihm auf, widmet ihm aber seinen Roman Die Sonate vom guten Menschen unter Benutzung seines Stasikürzel: »Für HGW XX/7 gewidmet, in Dankbarkeit.« Wiesler entdeckt das Buch in einer Auslage, kauft es und schaut hinein.

14.1_75B_Das_Leben_der_Anderen_1_bearb.jpg

      Wohnhaus Wedekindstraße 21

      »Soll ich es als Geschenk verpacken?«, fragt ihn die Verkäuferin.

      »Nein«, antwortet Wiesler, »es ist für mich.«

14.2_75B_Das_Leben_der_Anderen_2.JPG

      Wohnhaus von Georg Dreyman

      Wedekindstraße 21

      10243 Berlin

      15 Oberbaumbrücke (Friedrichshain-Kreuzberg, verbindet die beiden Ortsteile)

      Einer der frühen Ankläger der mit der Industrialisierung einsetzenden Umweltverschmutzung ist der Dichter und Sprachgelehrte Friedrich Rückert gewesen. 1841 von Erlangen an die Berliner Universität berufen, war der geniale Weltpoet, der aus 44 Sprachen übersetzen konnte, entsetzt darüber, wie es in der preußischen Hauptstadt stank, und fand dafür deutliche Worte:

      Der Spree ist’s weh;

      Sie kann sich nicht entschließen,

      In Berlin hineinzufließen,

      Wo die Gossen sich ergießen.

      Wer mag ihr verdenken?

      Sie möcht' lieber, wenn sie dürft’ , umlenken.

      Hindurch doch muss sie schwer beklommen;

      Sie kommt beim Oberbaum herein,

      Rein wie ein Schwan,

      Um wie ein Schwein,

      Beim

Скачать книгу