Unrast. Olga Tokarczuk
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Auf der unbeleuchteten Seite des Boulevards geht er zurück zum Hotel, dabei achtet er darauf, die Grenze des Dunkels nicht zu überschreiten. Bevor er das enge stickige Treppenhaus betritt, holt er tief Luft und bleibt einen Augenblick lang reglos stehen. Im Dunkeln tasten seine Füße nach den Stufen, so steigt er die Treppe hinauf und lässt sich im Zimmer gleich auf sein Bett fallen. Angezogen liegt er auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt, als hätte ihn jemand in den Rücken geschossen, und er hätte kurz über die Kugel nachgesonnen und wäre dann gestorben.
Nach ein paar Stunden steht er auf, er kann höchstens zwei Stunden gelegen haben, denn es ist noch dunkel, und er tastet sich die Treppe hinunter zu seinem Auto. Die Verriegelung klackt, das Auto blinzelt vertraulich und sehnsüchtig. Kunicki holt das Gepäck heraus, alles, wie es gerade kommt. Er trägt die Koffer die Treppe hinauf, sie in der Küche und im Zimmer auf den Boden fallen. Zwei Koffer und etliche Beutel, Taschen, Körbe, auch den mit dem Reiseproviant, eine Plastiktüte mit einem Satz Taucherflossen, Tauchermasken, einen Sonnenschirm, Strandmatten und die Kiste mit Wein, Ajvar, dieser Paprikapaste, die sie so gerne aßen, und Oliven von der Insel. Er knipst alle Lichter an und sitzt dann mitten in diesem Durcheinander. Er nimmt ihre Tasche und kippt den Inhalt vorsichtig auf den Küchentisch. Er setzt sich hin und betrachtet das Häuflein kläglicher Gegenstände, als wäre es ein kompliziertes Mikadospiel, für das man eine bestimmte Bewegung braucht, um einen Stab so herauszuziehen, dass die anderen sich nicht bewegen. Nach kurzem Zögern nimmt er ihr Rouge und dreht den Deckel ab. Dunkelrot, noch fast neu. Sie benutzte es nicht oft. Er riecht daran. Es duftet gut, schwer zu sagen, wonach. Er fasst Mut, nimmt jeden Gegenstand in die Hand und legt ihn einzeln auf den Tisch. Der Pass im blauen Umschlag, auf dem Bild ist sie wesentlich jünger, trägt die langen Haare offen, mit einem Pony. Die Unterschrift auf der letzten Seite ist verwischt, deshalb wird sie an Grenzen oft angehalten. Ein schwarzes mit einem Gummi zusammengehaltenes Notizbuch. Er schlägt es auf und blättert darin, ein paar Notizen, die Zeichnung von einer Jacke, eine Zahlenkolonne, die Karte von einem Bistro in Polanica mit einer Telefonnummer auf der Rückseite, ein Büschelchen dunkle Haare, eigentlich nicht mal ein Büschel, nur ein paar Dutzend einzelne Haare. Das legt er beiseite, er wird es später genauer anschauen. Ein Schminktäschchen aus indischem Stoff, darin ein dunkelgrüner Augenstift, eine Puderdose (fast ohne Puder), grüne Wimperntusche in einer Hülse, ein Brauenstift aus Plastik, Lipgloss, eine Pinzette, ein schwarz angelaufenes gerissenes Kettchen. Er findet noch ein Billett für das Museum in Trogir, auf der Rückseite steht etwas, ein Fremdwort; er hält das Stück Karton dicht vor die Augen und liest mit Mühe: καιρος, wohl K-A-I-R-O-S, aber er ist sich nicht sicher, das Wort sagt ihm nichts. Am Boden des Täschchens lauter Sand.
Das Mobiltelefon: Der Akku ist fast leer. Er prüft die letzten gewählten Nummern, vor allem seine eigene Nummer erscheint, aber auch zwei, drei andere, mit denen er nichts verbindet. Eingegangene Nachrichten: nur eine, die hat er geschickt, als sie sich in Trogir verloren hatten: »Ich bin am Brunnen auf dem Hauptplatz.« Verschickte Nachrichten: keine. Er kehrt zum Hauptmenü zurück, auf dem Bildschirm leuchtet kurz ein Muster auf und erlischt.
Ein angebrochenes Päckchen Papiertaschentücher. Ein Bleistift, zwei Kugelschreiber: der eine ein gelber Wegwerfstift, der andere mit der Aufschrift »Hotel Mercure«. Kleingeld, Groschen und Eurocent. Das Portemonnaie, darin ein paar kroatische Banknoten, zehn polnische Zloty. Eine Visakarte. Ein oranges Zettelblöckchen, etwas angeschmutzt. Eine Anstecknadel aus Kupfer mit antikem Muster, sie sieht kaputt aus. Zwei Bonbons. Eine Digitalkamera in schwarzem Etui. Ein Nagel. Eine weiße Klammer. Ein Kaugummistaniol. Krümel. Sand.
Alles breitet er vorsichtig auf der mattschwarzen Tischfläche aus, alle Gegenstände im gleichen Abstand voneinander. Er geht zum Wasserhahn, trinkt Wasser. Kehrt zurück zum Tisch und zündet sich eine Zigarette an. Dann macht er sich daran, mit ihrem Apparat zu fotografieren. Jeden Gegenstand einzeln. Er fotografiert langsam, mit Hingabe, aus geringstmöglicher Distanz, mit Blitz. Er bedauert nur, dass er sich mit dem kleinen Apparat nicht selbst fotografieren kann. Er ist auch ein Beweisstück in diesem Fall. Dann geht er in den Flur, wo die Taschen und Koffer stehen, knipst von jedem Gegenstand ein Bild. Doch dabei lässt er es nicht bewenden, er packt die Koffer aus und fotografiert jedes Kleidungsstück, jedes Paar Schuhe, jede Cremetube, jedes Buch. Die Spielsachen des Kleinen. Er schüttelt sogar die Schmutzwäsche aus der Plastiktüte und macht ein Foto von dem unförmigen Haufen.
Er findet eine kleine Flasche Rakija und trinkt sie, den Fotoapparat in der Hand, auf einen Zug aus, dann macht er ein Bild von der leeren Flasche.
Es ist schon hell, als er sich mit dem Auto in Richtung Vis aufmacht. Er hat die vertrockneten Brote dabei, die sie für die Reise zurechtgemacht hatte. In der Hitze war die Butter geschmolzen, hatte die Brotscheiben mit glänzendem Fett getränkt, der Schnittkäse ist hart geworden und halb durchsichtig wie Plastik. Er isst zwei Brote bei der Ausfahrt aus Komiża, die Hände wischt er an der Hose ab. Er fährt langsam und vorsichtig, schaut rechts und links, achtet auf alles, an dem er vorbeifährt, er ist sich bewusst, dass er Alkohol im Blut hat. Aber er fühlt sich stark und zuverlässig wie eine Maschine. Er schaut sich nicht um, obwohl er weiß, dass dort, in seinem Rücken, das Meer immer größer wird. Die Luft ist so klar, dass man vom höchsten Punkt sicher bis zur italienischen Küste sehen kann. Vorläufig hält er sich an die Buchten und schaut sich jede Kleinigkeit genau an, jedes Papierchen, jedes Stück Abfall. Er hat auch Brankos Fernglas mit, damit mustert er die Küstenfelsen. Er sieht die steinigen Hänge, auf denen strohig verdorrtes, grau gewordenes Gras wächst, er sieht die unverwüstlichen Disteln, von der Sonne dunkel verfärbt, die sich mit ihren langen Trieben krampfhaft festklammern. Die mickrigen verwilderten Olivenbäume mit ihren gewundenen Stämmen, die Steinmauern, die von aufgegebenen Weingärten noch übrig geblieben sind.
Etwa eine Stunde fährt er nach Vis hinab. Er fährt langsam wie eine Polizeistreife, an dem kleinen Supermarkt vorbei, wo sie eingekauft haben, vor allem Wein, und bald ist er in der Stadt.
Die Fähre liegt schon am Hafen vertäut. Sie ist riesig, groß wie ein Mietshaus, ein schwimmender Wohnblock. Die »Poseidon«. Die großen Tore sind geöffnet, eine Reihe Autos mit verschlafenen Passagieren stehen schon Schlange, um in diese gähnende Höhle zu fahren, gleich werden sie eingelassen. Kunicki bleibt an der Barriere stehen und betrachtet die Gruppe von Leuten, die Fahrkarten kaufen. Einige haben Rucksäcke dabei, darunter auch ein schönes Mädchen mit einem bunten Turban auf dem Kopf. Er schaut sie an und kann den Blick nicht von ihr losreißen. Neben dem Mädchen steht ein großer, skandinavisch-gutaussehender Junge. Frauen mit Kindern stehen dort, wahrscheinlich Einheimische, sie haben kein Gepäck, ein Mann im Anzug und mit Aktentasche. Ein Paar – die Frau hat die Augen geschlossen und den Kopf an seine Brust gelehnt, als wollte sie versäumten Schlaf einer zu kurzen Nacht nachholen. Und ein paar Autos: eines mit deutscher Nummer, das bis unters Dach beladen ist, zwei italienische. Und Lieferwagen vom Ort, die Brot, Gemüse, Post holen. Die Insel muss leben. Kunicki wirft verstohlene Blicke in die Autos.
Schließlich setzt sich die Schlange in Bewegung, die Fähre verschluckt Menschen und Autos, niemand protestiert, sie gehen hinein wie die Lämmer. Eine Gruppe von fünf französischen Motorradfahrern kommt an, sie sind die Letzten, die gehorsam im Schlund der Poseidon verschwinden.
Kunicki wartet, bis sich die Tore mit mechanischem Knirschen schließen. Der Fahrscheinverkäufer knallt sein Fenster zu und kommt heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Sie sind beide Zeugen, wie die Fähre mit plötzlichem Getöse vom Ufer ablegt.
Er sagt, er suche eine Frau und ein Kind, zieht ihren Pass aus der Tasche und hält ihn dem anderen unter die Nase.
Der Fahrscheinverkäufer blickt auf das Bild im Pass, er beugt sich darüber. Dann sagt er etwas auf Kroatisch, das sich ungefähr anhört wie:
»Die