Unrast. Olga Tokarczuk
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Unvermittelt legt er Kunicki die Hand auf die Schulter, als wären sie alte Bekannte.
»Kaffee? Trinkst du einen Kaffee?«, mit dem Kopf nickt er in Richtung des kleinen Cafés am Hafen, das gerade aufgemacht hat.
Ja, Kaffee. Warum nicht?
Kunicki setzt sich an den Tisch, der andere kommt kurz darauf mit zwei doppelten Espressi. Sie trinken schweigend.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt der Fahrscheinverkäufer. »Hier kann man nicht verloren gehen. Hier sind wir alle sichtbar wie auf einem Präsentierteller.« Das sagt er und zeigt dabei seine von dicken Linien durchzogene Handfläche. Danach holt er ihm ein Brötchen mit Frikadelle und Salat. Schließlich geht er und lässt Kunicki mit dem halb ausgetrunkenen Kaffee allein. Als er fort ist, entringt sich Kunicki ein kleines Schluchzen, es ist wie ein Stück Brötchen, er schluckt es herunter, es schmeckt nach nichts.
Er kann die Vorstellung nicht abschütteln, dass sie sichtbar sind wie auf einem Präsentierteller. Für wen? Wer soll auf sie alle hinabblicken, auf diese Insel im Meer, die Asphaltstraßen, die sich wie Fäden von einem Hafen zum anderen ziehen, die paar Tausend in der Hitze zerfließenden Menschen, Einheimische und Touristen, die alles in Bewegung halten. Bilder von Satellitenaufnahmen fallen ihm ein, angeblich kann man auf ihnen die Aufschrift auf einer Streichholzschachtel erkennen. Ob das möglich ist? Bestimmt kann man von dort auch seinen Glatzenansatz sehen. Der große kühle Himmel voll mit den beweglichen Augen der ruhelosen Satelliten.
Auf dem Rückweg zum Auto nimmt er den Pfad über den kleinen Friedhof neben der Kirche. Alle Gräber sind wie in einem Amphitheater dem Meer zugewandt, also haben die Toten einen Blick auf das langsame, sich ständig wiederholende Leben im Hafen. Bestimmt freut sie die weiße Fähre, vielleicht halten sie sie sogar für einen Erzengel, der die Seelen auf ihrer himmelhohen Überfahrt eskortiert.
Kunicki fällt auf, dass sich wenige Namen immer wiederholen. Die Leute hier sind wahrscheinlich wie diese Katzen, sie bleiben unter sich, verkehren in einem kleinen Kreis von Familien, selten heiratet einer in die Fremde. Er bleibt nur einmal stehen, als er einen kleinen Grabstein sieht, auf dem zwei kurze Zeilen stehen:
Zorka 9 II 21–17 II 54
Srečan 29 I 54–17 VII 54
Einen Augenblick lang sucht er in diesen Daten eine algebraische Ordnung, sie sehen aus wie ein Code. Mutter und Sohn. Eine in den Daten enthaltene Tragödie, die in Etappen stattgefunden hatte. Eine Stafette.
Da hört die Stadt auch schon auf. Er ist müde, die Hitze hat ihren Höhepunkt erreicht, der Schweiß läuft ihm in die Augen. Als er mit dem Auto wieder ins Innere der Insel hinauffährt, sieht er, dass die scharfe Sonne sie in die abweisendste Gegend der Erde verwandelt. Die Hitze tickt wie eine Zeitbombe.
Auf der Polizei serviert man ihm ein kaltes Bier, als wollte man unter dem weißen Schaum die eigene Ratlosigkeit verbergen. »Keiner hat sie gesehen«, sagt der massige Beamte und dreht den Ventilator höflich in Kunickis Richtung.
»Was sollen wir machen?«, fragt er den Polizisten, der an der Tür steht.
»Ruhen Sie sich etwas aus«, sagt der.
Aber Kunicki bleibt auf dem Kommissariat und hört alle Telefongespräche und das geheimnisumwobene Knistern der Walkie-Talkies an, bis Branko kommt und ihn zum Mittagessen abholt. Sie reden kaum ein Wort. Danach lässt er sich ins Hotel fahren, er fühlt sich schwach und legt sich angezogen aufs Bett. Er riecht seinen Schweiß, den ekelerregenden Geruch der Angst.
Angezogen liegt er auf dem Rücken, umgeben von den Dingen aus den Taschen und Tüten. Angestrengt erforscht sein Blick ihre Konstellationen, ihr Verhältnis zueinander, die Richtungen, die sie weisen, die Figuren, die sie bilden. Das könnte eine Prophezeiung sein. Darin ist eine Nachricht für ihn enthalten, ein Brief über seine Frau und sein Kind, vor allem aber über ihn selbst. Er kennt nicht den Brief, er kennt nicht die Zeichen, mit Sicherheit hat sie keine Menschenhand geschrieben. Ihr Zusammenhang mit ihm ist offensichtlich, allein die Tatsache, dass er sie betrachtet, ist wesentlich; und dass er sie sieht, ist ein großes Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, dass er überhaupt schauen und sehen kann, das Geheimnis ist, dass er ist.
Überall und nirgends
Wenn ich mich auf eine Reise begebe, verschwinde ich von der Landkarte. Niemand weiß, wo ich bin. An dem Punkt, von dem ich ausgegangen bin, oder an dem Punkt, zu dem ich strebe? Existiert ein »Dazwischen«? Bin ich wie dieser verlorene Tag, wenn man nach Osten fliegt, und die gewonnene Nacht nach Westen? Gilt für mich dasselbe Gesetz, auf das die Quantenphysik so stolz ist: dass ein Atom gleichzeitig an zwei Orten sein kann? Oder ein anderes Gesetz, von dem wir noch nichts wissen und das noch nicht belegt worden ist: dass man an ein und demselben Ort zweifach nicht existieren kann?
Ich glaube, es gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu existieren, wenn der Beamte ihnen einen Stempel in den Pass drückt oder eine höfliche Dame ihnen an einer Hotelrezeption einen Schlüssel aushändigt. Wahrscheinlich haben sie schon entdeckt, wie wandelbar sie sind, wie abhängig von Orten und Tageszeiten, von der Sprache, der Stadt, dem Klima. Fließend, mobil, illusionshaft – das ist gleichbedeutend mit zivilisiert. Barbaren reisen nicht, sie streben nur nach einem Ziel oder fallen an einem Ort ein.
Die Frau, die mir Kräutertee aus ihrer Thermosflasche anbietet, als wir zusammen auf den Bus vom Bahnhof zum Flughafen warten, denkt ähnlich. Ihre Hände sind mit einem komplizierten Hennamuster bemalt, das mit jedem Tag blasser wird. Beim Einsteigen hält sie mir einen Vortrag zum Thema Zeit. Sie sagt, sesshafte, ackerbauende Menschen bevorzugten den Trost einer zyklischen Zeit, in der alles wieder an seinen Anfang zurückkehren muss, zu einem Keim schrumpft und den Weg zu Reife und Tod aufs Neue gehen muss. Doch Nomaden und reisende Händler mussten eine andere Zeitform ersinnen, die dem Unsteten besser entsprach. Das war eine lineare Zeit, sie war für sie geeigneter, weil sie das Maß für die Annäherung an ein Ziel und für den Zinszuwachs war. In dieser Zeitform ist jeder Augenblick neu und unwiederholbar, das macht die Menschen geneigter, Risiken auf sich zu nehmen, mit beiden Händen zu greifen, was sie bekommen können, den Augenblick auszukosten. Doch im Grunde war das eine bittere Entdeckung: Wenn eine Veränderung in der Zeit unwiderruflich ist, werden Verlust und Trauer zu einer alltäglichen Erfahrung. Deshalb haben sie auch ständig Worte wie »vergeblich« oder »verschwendet« auf der Zunge.
»Vergebliche Anstrengung, verschwendete Mittel«, lacht die Frau und verschränkt die bemalten Hände hinter dem Kopf. Die einzige Möglichkeit, in einer solchen in die Länge gezogenen, linearen Zeit zu überdauern, sei das Wahren von Abstand, sagt sie. Ein Tanz, dessen Schritte im Wechsel von Annäherung und Entfernung bestehen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts – eine Schrittfolge, die man sich leicht merken kann. Und je größer die Welt werde, desto größer die Entfernung, die man sich auf diese Weise ertanzen könne, man könne hinter sieben Meere, hinter zwei Sprachen, hinter eine ganze Religion wandern.
Ich habe jedoch eine andere Meinung zum Thema Zeit. Die Zeit aller Reisenden sind viele Zeiten in einer, eine ganze Vielheit. Das ist eine Inselzeit, Archipele der Ordnung im Ozean des Chaos, das ist die Zeit, die Bahnhofsuhren erzeugen – überall anders, eine Zeit nach Absprache, eine meridionale Zeit, die niemand besonders ernst nimmt. Die Stunden verschwinden im fliegenden Flugzeug, der Morgendämmer tritt blitzartig ein, der Mittag und gleich dahinter der Abend traben ihr schon auf den Fersen. Die hektische Zeit der Großstädte, wo man sich nur für kurze Zeit einfindet, um sich in die Gefangenschaft eines Abends zu begeben, und die