Unrast. Olga Tokarczuk
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Original und Kopie
In der Cafeteria eines Museums sagte mir einmal jemand, nichts vermittle ihm eine solche Befriedigung wie der Umgang mit Originalen. Er stellte auch die Behauptung auf, je mehr Kopien es auf der Welt gebe, desto größer sei die Macht des Originals, eine Macht, die manchmal fast so groß ist wie die einer Reliquie. Denn wichtig ist das Einmalige, weil darüber die Gefahr der Zerstörbarkeit schwebe. Die Bestätigung seiner Worte fand sich in Gestalt einer Touristengruppe, die in der Nähe mit gottesdienstartiger Andacht ein Bild Leonardo da Vincis zelebrierte. Nur ab und zu hielt jemand die Spannung nicht aus, das deutlich vernehmbare Klicken eines Fotoapparates ertönte und klang wie eine Art »Amen« in einer neuen Zeichensprache.
Der Zug der Feiglinge
Es gibt Züge, die ganz auf den Schlaf der Passagiere eingerichtet sind. Der ganze Zug besteht nur aus Schlafwagen und einem Buffetwagen, nicht mal ein richtiger Speisewagen ist nötig. Ein solcher Zug verkehrt zum Beispiel zwischen Stettin und Breslau. Er fährt um 22.30 los und kommt um 7.00 an, obwohl die Strecke gar nicht so lang ist, es sind gut 340 Kilometer, die müssten sich in fünf Stunden zurücklegen lassen. Aber es geht ja nicht immer nur um Geschwindigkeit, das Unternehmen denkt auch an den Komfort der Passagiere. Der Zug hält auf offener Strecke und steht in Nacht und Nebel, ein leises Hotel auf Rädern. Es lohnt sich nicht, mit der Nacht um die Wette zu laufen.
Es gibt auch einen durchaus guten Zug auf der Strecke Berlin – Paris. Und Budapest – Belgrad. Und Bukarest – Zürich.
Ich glaube, diese Züge sind für die Leute ersonnen, die Angst vorm Fliegen haben. Sie sind öffentlichkeitsscheu, besser erwähnt man nicht, dass man mit ihnen fährt. Es wird auch keine besondere Werbung für sie gemacht. Diese Züge haben eine feste Kundschaft, nämlich den unglückseligen Teil der Menschheit, der bei jedem Start und jeder Landung tausend Tode stirbt. Das sind die mit den schwitzigen Händen, die hilflos ein Taschentuch nach dem anderen zerknüllen und die Stewardessen am Ärmel zupfen.
Ein solcher Zug steht bescheiden auf einem Nebengleis, er fällt nicht auf. (Zum Beispiel der von Hamburg nach Krakau wartet in Altona, hinter Reklametafeln verborgen.) Wer zum ersten Mal damit fährt, irrt erst auf dem Bahnhof herum, bevor er ihn findet. Das diskrete Einsteigen dauert seine Zeit. In den Seitentaschen des Gepäcks stecken Schlafanzug und Pantoffeln, Kosmetika, Ohrenstöpsel. Die Kleidung wird sorgfältig auf spezielle Bügel gehängt, Zahnbürste und Zahnpasta gibt man in die winzige aufklappbare Waschkonsole. Bald kommt der Schaffner und nimmt die Bestellung für das Frühstück entgegen. Kaffee oder Tee – das ist die Scheinfreiheit des Zuges. Wenn sie einen Billigflug gebucht hätten, wären sie in einer Stunde am Ziel, hätten Geld gespart. Und sie hätten die Nacht – in den Armen ersehnter Geliebter, ein Abendessen in einem Restaurant auf der Rue Ble-Ble, wo es Austern gibt. Ein abendliches Mozart-Konzert in einer Kirche. Einen Spaziergang am Flussufer. Doch so müssen sie sich restlos der Dauer einer Zugreise ergeben, nach althergebrachter Weise persönlich jeden Kilometer hinter sich bringen, jede Brücke, jeden Viadukt und jeden Tunnel auf dieser Reise zu Lande passieren. Nichts kann man auslassen oder überspringen. Die Räder berühren jeden Millimeter der Strecke, machen daraus ihre Augenblickstangente, eine nie wiederholbare Konfiguration von Rad und Schiene, Zeit und Ort, die es im ganzen Kosmos nur einmal gibt.
Kaum ist dieser Zug der Feiglinge ohne große Ankündigung in die Nacht aufgebrochen, füllt sich schon die Bar. Männer in Anzügen kommen für ein paar Schnäpse oder ein großes Bier, um besser einschlafen zu können; gut gekleidete Schwule blitzen mit den Augen umher wie mit Kastagnetten, Fußballfans schauen sich verloren um, getrennt von der Gruppe, die mit dem Flugzeug geflogen ist, sind sie unsicher wie Schafe außerhalb ihrer Herde; Freundinnen über vierzig, die ihre langweiligen Männer zu Hause gelassen haben und sich auf Abenteuerreise begeben.
Bald sind keine Plätze mehr frei, die Reisenden benehmen sich wie auf einer großen Party, nach und nach machen die freundlichen Bediensteten an der Bar die einzelnen Gäste miteinander bekannt: »Dieser Gast fährt jede Woche mit mir.« »Ted, der sagt immer, dass er nicht schlafen geht, aber kippt als Erster in die Falle.« »Dieser Herr fährt jede Woche zu seiner Frau, er muss sie sehr lieben.« Das ist Frau »Nie-wieder-fahr-ich-mit-diesem-Zug«. Mitten in der Nacht, wenn der Zug langsam über die belgische oder Lebusser Ebene kriecht, wenn der Nachtnebel dichter wird und alles verschwimmen lässt, dann taucht die zweite Schicht in der Bar auf: von Schlaflosigkeit erschöpfte Passagiere, die sich der Pantoffeln an den bloßen Füßen nicht schämen. Sie gesellen sich dazu, als übergäben sie ihr Wohl und Wehe in die Hände des Fatums: Was sein wird, wird sein.
Ich glaube, ihnen kann nur das Beste passieren. Sie befinden sich doch an einem beweglichen Ort, der sich durch den schwarzen Raum schiebt, sie werden durch die Nacht getragen. Niemanden kennen, von niemand gekannt werden. Aus dem eigenen Leben treten und dann wohlbehalten wieder zurückkehren.
Die verlassene Wohnung
Die Wohnung versteht nicht, was passiert ist. Die Wohnung meint, der Besitzer ist gestorben. Seitdem die Tür ins Schloss gefallen ist und der Schlüssel im Schlüsselloch geknirscht hat, dringen alle Geräusche nur noch gedämpft herein, ohne Schattierung und Umriss, wie verlaufene Flecken. Der Raum erstarrt, ungenutzt, von keinem Durchzug, keiner Bewegung der Vorhänge aufgestört, in dieser Reglosigkeit bilden sich zaghaft probeweise Formen, und zwar solche, wie sie einen Augenblick lang im Flur zwischen Decke und Fußboden hängen.
Natürlich erscheint hier nichts Neues, wie könnte es auch? Das sind nur die Imitationen bekannter Formen, die blasenartige Ballungen bilden und ganz kurz Gestalt annehmen. Es sind einzelne Episoden, wie zum Beispiel ein Fußabdruck auf dem weichen Teppich, der dauernd – und immer an der gleichen Stelle – entsteht und verschwindet. Oder bloße Gesten, wie die Hand, die am Tisch die Bewegung beim Schreiben imitiert, was vollkommen unbegreiflich ist, denn sie hat weder Stift noch Blatt noch Schrift noch einen Körper, der dazu gehört.
Das Buch der Schandtaten
Eine Freundin war sie nicht. Ich traf sie auf dem Flughafen in Stockholm, dem einzigen Flughafen der Welt mit Holzfußboden, ein schönes dunkles Eichenparkett, gebohnerte, sorgfältig aufeinander abgestimmte Holzplättchen, man kann sich leicht vorstellen, dass ein paar Hektar nördlicher Wald darin stecken.
Sie saß neben mir, hatte die Beine ausgestreckt und auf ihren schwarzen Rucksack gelegt. Sie las nicht, hörte keine Musik, hatte die Hände über dem Bauch verschränkt und schaute vor sich hin. Mir gefiel diese Ruhe, diese völlige Hingabe ans Warten. Als ich sie etwas neugieriger musterte, bemerkte ich, dass ihr Blick über den gebohnerten Boden glitt.
Ich wollte sie ansprechen und murmelte deshalb etwas wie: »Schade um so viel Wald für einen Fußboden im Flughafen.«
»Wahrscheinlich muss beim Bau eines Flughafens ein Lebewesen zum Opfer gebracht werden. Damit keine Katastrophen passieren.«
Die Stewardessen am Pult hatten ein Problem. Leider hatte sich herausgestellt – wie sie uns, den Wartenden, durchs Mikrofon mitteilten –, dass unsere Maschine überbelegt war. Unerklärlicherweise waren zu viele Leute auf der Passagierliste. Ein Computerfehler – das Fatum unserer Tage. Wenn zwei Passagiere bereit wären, ihren Flug auf morgen zu verschieben, würden sie je zweihundert Euro bekommen, eine kostenlose Übernachtung im Flughafenhotel und einen Gutschein für ein Abendessen.