Unrast. Olga Tokarczuk

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Unrast - Olga Tokarczuk

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hatte sie schon niedergeschrieben.

      Reiseführer

      Beschreiben ist wie benutzen – es verschleißt. Die Farben verblassen, die Kanten werden stumpf, das Beschriebene verblasst allmählich und verschwindet. Das betrifft insbesondere Orte. Die Reiseliteratur hat große Verheerungen angerichtet, wie eine Invasion, eine Epidemie. Die Baedekers haben den größten Teil der Welt ein für alle Mal zerstört, in Millionen von Auflagen und unzähligen Sprachen gedruckt, haben sie die Orte geschwächt, sie festgenagelt, benannt und die Umrisse verwischt.

      In meiner jugendlichen Naivität habe ich mich früher selbst ans Beschreiben von Orten gemacht. Wenn ich später an diese Orte zurückkehrte, tief Luft holen und mich noch einmal an der Intensität ihrer Präsenz berauschen, mein Ohr ihrem Wispern öffnen wollte – erlebte ich einen Schock. Die Wahrheit ist schrecklich: Beschreiben heißt vernichten.

      Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine Namen. Man sollte verschlüsseln und verschleiern, Ortsangaben vorsichtig behandeln, um niemanden zu einer Pilgerfahrt zu verführen. Was würde der Pilger dort finden? Einen toten Ort, Staub, einen abgenagten Butzen.

      In dem bereits erwähnten »Buch der Syndrome« findet sich auch das »Pariser Syndrom«, das in erster Linie japanische Touristen befällt, die Paris besuchen. Kennzeichnend dafür ist ein Schock mit etlichen vegetativen Symptomen wie flacher Atem, Herzrhythmusstörungen, Schweißausbrüche und Erregungszustände. Manchmal treten sogar Halluzinationen auf. In solchen Fällen verabreicht man Beruhigungsmittel und rät zur Heimreise. Diese Störungen lassen sich durch die Abweichung der Wirklichkeit von den Erwartungen der Pilger erklären. Das Paris, das sie vorfinden, ähnelt in nichts der Stadt, die sie aus Reiseführern, Film und Fernsehen kennen.

      Das neue Athen

      Dabei gibt es ja keine Bücher, die so schnell veralten wie Reiseführer, was ja für die Reiseführerindustrie ein Segen ist. Auf meinen Reisen bin ich immer zweien treu geblieben, die ich höher schätze als alle anderen, obwohl sie vor langer Zeit geschrieben wurden. Denn sie sind aus wahrer Leidenschaft entstanden, aus dem Wunsch, die Welt zu beschreiben.

      Der erste wurde am Anfang des 18. Jahrhunderts in Polen verfasst, zu einem Zeitpunkt, als in Europa die erweckte Vernunft ähnliche Versuche unternahm, die vielleicht von größerem Erfolg gekrönt waren, dafür aber mit Sicherheit weniger Charme haben. Sein Autor ist der katholische Priester Benedykt Chmielowski, der irgendwo in Wolhynien geboren wurde.1 Er ist ein vom Nebel der Provinz umwogter Josephus Flavius, ein Herodot vom Rand der Welt. Ich vermute, dass er an dem gleichen Syndrom gelitten haben mag wie ich, obwohl er sich, im Unterschied zu mir, nie von zu Hause fortbewegte.

      In dem Kapitel mit dem langen Titel »Von anderen wundersamen und merkwürdigen Menschen auf der Welt, ergo den Anacephalen alias Kopflose, den Cynocephalen alias Hundsköpfige, und von anderen Menschen seltsamer Gestalt« schreibt er:

      »… befindet sich das sogenannte Volk der Blemier, welches Isidorus auch Lemnios heißet, diese Halsmenschen haben Gestalt und Symmetrie, einen Kopf jedoch haben sie gar nicht, nur ein Gesicht in der Mitte der Brust. […] Plinius hingegen, der große Forscher natürlicher Dinge, bestätigt nicht nur dieses Sentiment der Acephalen alias kopflosen Menschen, sondern er siedelt sie auch nicht weit von den Troglodyten in Äthiopien an, also im Land der Mohren. Diese Autoren erhalten einige Bekräftigung von jenem oculatus testis ›was heißt Augenzeugen‹, nämlich dem S. Augustinus, da ebendieser in jenem Lande (von welchem er als Hipponensischer Bischof in Afrika nicht weit entfernt war) umherzog und des Heiligen Christlichen Glaubens semina (Samen) säte, wie er ausdrücklich in seiner Predigt in Eremo (in der Wüste) an die von ihm gegründete Bruderschaft der Augustiner verkündete. […] ›Ich war schon Bischof von Hippo und begab mich mit einigen Dienern Christi nach Äthiopien, um das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden, und wir sahen dort viele Männer und Weiber ohne Kopf, die jedoch riesige Augen auf der Brust trugen, während ihre anderen Gliedmaßen jedoch den unseren ähnlich waren.‹ […] Solinus, der so oft erwähnte Autor, schreibt, dass sich in den indischen Gebirgen Menschen finden, welche die Köpfe von Hunden und ebenso Hundestimmen haben, alias Bellen. Marcus Polus, welcher Indien visitieret hat, berichtet, auf der Insel Agamen gebe es Menschen mit den Köpfen und Zähnen von Hunden; ebenso bezeugt dies auch Odoricus Aelianus lib 10, welcher ihnen die Wüsten und Sümpfe Ägyptens zuschreibt. Diese menschlichen Monstra nennt Plinius Cynanalogos, Aulus, Gellus, Isidonus hingegen nennen sie Cynocephalos, das sind Hundsköpfe. […] Der Fürst Mikołaj Radziwill gibt in Brief 3 von seinen Reisen Kunde, er habe zwei Cynocephalen, das sind hundsköpfige Menschen, mit sich genommen und sie nach Europa gebracht.

      Tandem oritur questio ›so stellt sich schließlich die Frage‹: Sind solche Monstrosi Menschen capaces ›geeignet‹ für die Erlösung? Auf diese Frage antwortet der Hipponens Catedra Oraculum, der Heilige Augustinus: Wo auch immer ein Mensch geboren sein mag, solange er ein wahrhaftiger Mensch ist, ein mit Vernunft begabtes Wesen, das eine vernünftige Seele hat, das sich in Gestalt, Farbe Stimme oder Gang von uns unterscheide mag, so darf nicht bezweifelt werden, dass er von der Menschen Erstem Stammvater Adam abstamme und deshalb teilhaftig an der Erlösung capax sei.«

      Der andere Reiseführer ist »Moby Dick« von Melville.

      Und wenn man gelegentlich Zugang zu Wikipedia hat, dann reicht das vollkommen aus.

      Wikipedia

      Meiner Meinung nach ist es das anständigste der menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt. Es bringt unmittelbar zu Bewusstsein, dass alles Wissen von der Welt dem menschlichen Kopf entspringt, so wie Athene dem göttlichen Kopf. Die Leute bringen bei Wikipedia alles ein, was sie selbst wissen. Wenn das Projekt gelingt, wird eine solche sich ständig weiterentwickelnde Enzyklopädie das größte Weltwunder sein. Darin findet sich alles, was wir wissen, jedes Ding, jede Definition, jedes Ereignis, jedes Problem, mit dem sich das menschliche Gehirn beschäftigt hat; wir werden Quellen zitieren und Links angeben. Auf diese Art und Weise werden wir unsere eigene Version von der Welt wirken, die Weltkugel mit unserer eigenen Erzählung überziehen. Alles werden wir darin unterbringen. Machen wir uns an die Arbeit! Soll jeder nur einen Satz über das schreiben, worauf er sich am besten versteht.

      Manchmal habe ich allerdings Zweifel, ob es gelingen wird. Denn dort kann sich ja nur das finden, was wir aussprechen können, wofür es Worte gibt. In diesem Sinne wird eine solche Enzyklopädie keineswegs alles enthalten.

      Es müsste des Gleichgewichts halber noch eine andere Wissenssammlung geben, von dem, was wir nicht wissen, wie ein Rock und seine linke Seite, sein Innenfutter, von keinem Inhaltsverzeichnis zu erfassen, keiner Suchmaschine zugänglich, ihres ungeheuren Umfangs wegen findet der Fuß keinen Halt an den Worten, sondern man setzt die Füße zwischen die Worte, in die abgrundtiefen Schlünde zwischen den Begriffen. Jedes Mal rutscht der Fuß ab, und wir fallen.

      Die einzige mögliche Bewegung scheint mir die Bewegung in die Tiefe zu sein.

      Materie und Antimaterie.

      Information und Antiinformation.

      Bürger der Welt, an die Feder!

      Jasmin, eine liebenswerte Muslimin, mit der ich mich einmal einen ganzen Abend unterhalten habe, erzählte mir von ihrem Vorhaben: Sie will alle Menschen in ihrem Land dazu anregen, ein Buch zu schreiben. Sie sagte: Man braucht so wenig, um ein Buch zu schreiben, nur ein bisschen freie Zeit nach der Arbeit, nicht mal unbedingt einen Computer. Es kann immer vorkommen, dass dem einen oder andren mutigen Menschen dann ein Bestseller gelingt, dann wäre ein gesellschaftlicher Aufstieg der Lohn für seine Mühe. Das ist die beste Methode, um sich aus der Armut zu befreien, sagte sie. Wenn wir nur

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