Unrast. Olga Tokarczuk
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Kunicki erkennt die kleine Bucht, wo er zuvor gestanden hat, sofort wieder. Ihm scheint es Ewigkeiten her zu sein, die Zeit fließt jetzt anders, sie ist zäh und herb, setzt sich aus Einzelsequenzen zusammen. Hinter den weißen Wolken kommt die Sonne hervor, auf einmal wird es heiß.
»Hup mal!«, sagt Branko, und Kunicki drückt auf die Hupe.
Ein langgezogener klagender Laut ertönt, wie von einem Tier. Er verstummt, zerfällt zu den Miniaturechos der Zikadenklänge.
Sie dringen in den Olivenhain vor, rufen sich hin und wieder etwas zu. Erst am Weingarten treffen sie wieder zusammen, nach kurzer Beratung beschließen sie, auch diesen ganz zu durchkämmen. Sie schreiten die schattigen Reihen ab und rufen nach der verschwundenen Frau: Jagoda! Jagoda! Kunicki wird sich der Bedeutung des Namens bewusst – Beere –, die war ihm ganz entfallen. Plötzlich hat er das Gefühl, an einem uralten, obskuren und grotesken Ritual teilzunehmen. Von den Weinstöcken hängen pralle dunkelviolette Trauben, perverse Ballungen von Brustwarzen, und er irrt in dem belaubten Labyrinth umher und schreit »Jagoda, Jagoda!«. An wen ist das gerichtet? Wen sucht er?
Er muss kurz stehen bleiben, er hat Seitenstechen, krümmt sich zwischen den Weinranken. Er taucht den Kopf in die schattige Kühle, die vom Laub gedämpfte Stimme Brankos verstummt, und Kunicki hört jetzt das Summen der Fliegen – den vertrauten Grundton der Stille.
Hinter diesem Weingarten beginnt der nächste, vom ersten nur durch einen schmalen Pfad getrennt. Sie bleiben stehen, und Branko macht einen Anruf von seinem Mobiltelefon. Er sagt mehrmals die beiden Worte »Zena« und »dijete« – »Frau« und »Kind« –, mehr kann Kunicki nicht verstehen. Die Sonne wird orange, wird groß und aufgedunsen, man kann zusehen, wie sie kraftloser wird. Gleich kann man ihr direkt ins Gesicht sehen. Die Weingärten nehmen jetzt ein tiefes Dunkelgrün an. Zwei menschliche Gestalten stehen ratlos in diesem Meer aus grünen Streifen.
Als es dämmert, haben sich bereits mehrere Autos und ein Männergrüppchen an der Landstraße eingefunden. Kunicki sitzt in einem Auto mit der Aufschrift »Polizei« und beantwortet mit Brankos Hilfe die ihm chaotisch erscheinenden Fragen des dicken, verschwitzten Polizisten. Er spricht in einem einfachen Englisch: »We stopped. She went out with the child. They went right, here.« Er zeigt die Richtung mit der Hand. »I was waiting, let’s say fifteen minutes. Then I decided to go and look for them. I couldn’t find them. I didn’t know what had happened.« Sie geben ihm lauwarmes Mineralwasser, er trinkt gierig. »They are lost.« Kurz darauf sagt er noch einmal: »Lost.« Der Polizist wählt eine Nummer auf dem Handy. »It is impossible to get lost here, my friend«, sagt er zu ihm. Dieses »my friend« kommt Kunicki merkwürdig vor. Dann meldet sich das Walkie-Talkie. Noch eine Stunde vergeht, bis sie in offener Schwarmlinie ins Innere der Insel aufbrechen.
Unterdessen sinkt die Sonne langsam über dem Weingarten, und als sie den Kamm erreichen, sieht man, dass sie schon das Meer berührt. Sie werden unfreiwillige Zeugen ihres theatralischen langen Untergangs. Schließlich schalten sie ihre Taschenlampen an. Es ist schon dunkel, als sie auf den hohen, felsigen Küstenstreifen der Insel kommen, wo zahlreiche Buchten sind. Sie steigen in zwei Buchten hinab, um nachzufragen. In kleinen Steinhäusern wohnen dort etwas exzentrischere Touristen, die keine Hotels mögen und dafür lieber etwas mehr bezahlen, um weder fließendes Wasser noch Strom zu haben. Sie bereiten ihr Essen auf Steinöfen zu, manche haben auch Gasflaschen mitgebracht. Sie fangen Fische, die direkt vom Meer auf den Grill wandern. Nein, niemand hat eine Frau mit einem Kind gesehen. Gleich gibt es bei ihnen Abendessen, Brot, Käse, Oliven und die armen Fische, die sich am Nachmittag noch ihren sorglosen Spielen im Meer hingegeben haben. Immer wieder ruft Branko im Hotel in Komiøa an – Kunicki bittet ihn darum, weil er sich nur vorstellen kann, dass sie sich verirrt hat und schließlich doch auf einem anderen Weg dorthin zurückgelangt. Doch nach jedem Anruf klopft Branko ihm nur wortlos auf die Schulter.
Gegen Mitternacht löst sich die Gruppe der Männer langsam auf. Auch die beiden, die Kunicki am Cafétisch in Komiża gesehen hat, sind dabei. Jetzt erst, beim Abschiednehmen, stellen sie sich vor: Drago und Roman. Zusammen gehen sie zum Auto. Kunicki ist ihnen für ihre Hilfe dankbar, er weiß nicht, wie er es ausdrücken soll, er hat vergessen, was auf Kroatisch »danke« heißt. Wahrscheinlich ein dem Polnischen entfernt ähnelndes Wort. Mit einem bisschen guten Willen müsste man eigentlich eine slawische Verständigungsform entwickeln können, eine Zusammenstellung ähnlicher praktischer slawischer Wörter, die man ohne Grammatik benutzen könnte, anstatt sich einer hölzernen und simplifizierten Version des Englischen zu bedienen.
In der Nacht legt ein Boot an dem Haus an, wo er wohnt. Sie müssen evakuiert werden, es gibt eine Überschwemmung. Das Wasser reicht schon bis zum ersten Stockwerk der Häuser. In der Küche dringt es durch die Fugen zwischen den Kacheln und strömt in warmen Bächen aus den Steckdosen. Die Bücher sind von der Nässe schon aufgequollen. Er öffnet eines und sieht, dass die Buchstaben wie Schminke zerfließen und verschmierte leere Seiten hinterlassen. Es stellt sich heraus, dass alle schon mit dem letzten Transport fortgefahren sind, nur er ist zurückgeblieben.
Im Schlaf hört er Tropfen, die vereinzelt vom Himmel fallen und kurz darauf zu einem heftigen kurzen Wolkenbruch werden.
Benedictus, qui venit
April auf der Autobahn, rote Sonnenstreifen auf dem Asphalt, eine vom Regen wie mit sorgfältig aufgetragenem Zuckerguss überzogene Welt – ein Osterkuchen. Es ist Karfreitag, irgendwo zwischen Belgien und Holland bin ich mit dem Auto unterwegs, ich weiß nicht genau, in welchem Land ich bin, die Grenze ist verschwunden, hat sich verwischt, wird nicht mehr gebraucht. Im Radio wird ein Requiem übertragen. Beim Benedictus leuchten plötzlich entlang der Autobahn die Lampen auf, als wollten sie den mir unfreiwillig übers Radio erteilten Segen wirksam werden lassen.
Eigentlich kann es aber auch nur daran gelegen haben, dass ich nun in Belgien angelangt war, wo man alle Autobahnen reisefreundlich zu beleuchten pflegt.
Panoptikum
Das Panoptikum und die Wunderkammer sind, wie ich einem Museumsführer entnahm, ein etabliertes Paar, das einen Vorläufer der Museen darstellt. Dort zeigte man alle möglichen gesammelten Kuriositäten, die die Eigentümer von ihren Reisen nach nah und fern mitgebracht hatten.
Man sollte nicht vergessen, dass Bentham sein geniales System zur Überwachung von Gefangenen auch als Panoptikum bezeichnete: Er plante eine Anlage, die räumlich so gestaltet war, dass jeder Gefangene jederzeit beobachtet werden konnte.
Kunicki. Wasser II
So groß ist die Insel ja nun auch wieder nicht«, sagt Djudzica am nächsten Morgen zu Branko, als sie ihm einen starken schwarzen Kaffee einschenkt.
Alle wiederholen diese Worte wie ein Mantra. Kunicki versteht, was sie sagen wollen, er weiß ja selbst, dass die Insel so klein ist, dass man nicht darauf verloren gehen kann. Die Insel ist nur zehn Kilometer lang, und es gibt zwei größere Orte darauf: Vis und Komiża. Man kann sie Zentimeter für Zentimeter durchsuchen, wie eine Schublade. Und in bei-den Orten kennen sich alle. Die Nächte sind warm, auf den Feldern wächst der Wein, die Feigen sind fast schon reif. Selbst wenn sie sich verirrt hätten, würde ihnen nichts zustoßen, sie würden weder verhungern noch erfrieren und auch nicht Opfer wilder Tiere werden. Sie würden eine warme Nacht im trockenen, sonnenerhitzten Gras verbringen, unter den Zweigen eines Olivenbaums und beim schläfrigen Rauschen des Meeres. Von keiner Stelle aus sind es mehr als drei, vier Kilometer zur Landstraße. Auf den Feldern stehen Steinhütten, wo die Weinfässer aufbewahrt werden, manchmal sind auch Essen und Kerzen da. Zum Frühstück nehmen sie sich eine Handvoll reife Weintrauben oder bekommen bei den Sommergästen in einer der Buchten eine