Unrast. Olga Tokarczuk
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Es geht los. Branko zündet zwei Zigaretten an, eine gibt er Kunicki. Das Rauchen ist schwierig, unter dem Bug sprüht das Wasser auf und überzieht alles mit kleinen Tröpfchen.
»Guck aufs Wasser«, schreit Branko. »Auf alles, was schwimmt.«
Als sie sich einer Bucht mit einer Höhle nähern, sehen sie einen Hubschrauber, der in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Branko stellt sich ins Boot und winkt. Kunicki blickt fast glücklich auf die Maschine. Die Insel ist doch nicht groß, denkt er zum hundertsten Mal, von oben betrachtet wird sich nichts vor den Augen des großen mechanischen Insekts verbergen können, alles liegt offen da wie auf dem Präsentierteller.
»Fahren wir zur Poseidon«, ruft er Branko zu, aber der will nicht so recht.
»Dort gibt es keine Durchfahrt«, schreit er zurück.
Aber der Kutter biegt ab und verlangsamt die Fahrt. Mit abgestelltem Motor treiben sie zwischen den Felsen.
Dieser Teil der Insel müsste auch Poseidon heißen, so wie alles andere, denkt Kunicki. Gott hatte sich hier seine eigenen Kathedralen gebaut mit Haupt- und Nebenschiff, Säulen und Chor. Die Perspektiven sind planlos, der Rhythmus falsch und ungleichmäßig. Die Felsen aus schwarzem Magma glänzen nass, wie mit einem seltenen dunklen Metall überzogen. Jetzt, im Dämmer, sind diese Bauwerke erschütternd traurig, das ist die Quintessenz der Verlassenheit, hier hat noch nie jemand gebetet. Kunicki meint plötzlich, hier die Urform der Kirchen der Menschen zu erblicken. Hierher müsste man reisen, bevor man nach Reims oder Chartres fährt.
Er möchte diese Entdeckung mit Branko teilen, aber der Lärm ist zu groß, man kann kein Wort wechseln. Sie sehen ein anderes größeres Boot mit der Aufschrift »Policie. Split«. Es fährt an der Steilküste entlang. Die Boote fahren aufeinander zu, Branko spricht kurz mit den Polizisten. Keine Spur ist zu entdecken, nichts. Das entnimmt Kunicki jedenfalls, das Knattern der Motoren übertönt das Gespräch. Offenbar verständigen sie sich mit Lippenbewegungen und einem sanften ratlosen Schulterzucken, was nicht zu ihren weißen Polizeihemden mit den Achselklappen passt. Sie geben mit Gebärden zu verstehen, man solle umkehren, gleich würde es dunkel. »Kehrt um!«, diese Worte versteht Kunicki. Branko gibt Gas, es hört sich an wie eine Explosion. Das Wasser bebt, kleine Wellen laufen auseinander, wie ein Schauder.
Als sie sich jetzt der Insel nähern, wirkt alles ganz anders als bei Tag. Zuerst sehen sie das Lichtergefunkel, das mit jedem Moment klarer in einzelne Punkte zerfällt, die Reihen bilden. Sie wachsen im sinkenden Dunkel, treten einzeln und verschiedenartig hervor: Die Lichter der Yachten vor dem Ufer sind anders als die in den Häusern, wieder anders sind die erleuchteten Schilder und die beweglichen Scheinwerfer der Autos. Eine gezähmte Welt, die Sicherheit ausstrahlt.
Schließlich schaltet Branko den Motor aus, und das Boot erreicht das Ufer. Unerwartet scheuert der Bootsboden auf Kies – sie sind auf dem kleinen Strand, des Ortes angekommen, gleich neben dem Hotel und weit vom Hafen. Kunicki ahnt, weshalb. An der Rampe, gleich am Strand, steht ein Polizeiauto, zwei Männer in weißen Hemden warten offensichtlich auf sie.
»Ich glaube, die wollen mit dir reden«, sagt Branko und vertäut das Boot. Kunicki wird plötzlich ganz schwach zumute, er hat Angst vor dem, was er vielleicht gleich hören wird. Dass sie die Leichen gefunden haben. Davor hat er Angst. Mit weichen Knien geht er auf sie zu.
Gott sei Dank – es ist nur ein normales Verhör. Nein, es gibt nichts Neues. Aber inzwischen ist so viel Zeit vergangen, die Angelegenheit ist sehr ernst geworden. Sie bringen ihn über die einzige Straße der Insel nach Vis auf die Wache. Es ist schon stockdunkel, aber offensichtlich kennen sie den Weg gut, sie gehen nicht mal in den Kurven vom Gas. An jener Stelle fahren sie schnell vorbei. Auf der Wache warten weitere Leute auf ihn. Ein Übersetzer – ein großer gutaussehender Mann, den sie extra aus Split hergeholt haben und der offen gestanden sehr wenig Polnisch spricht – und noch ein Polizist. Sie stellen Routinefragen, fast gleichgültig, und ihm wird langsam klar, dass er verdächtigt wird.
Sie bringen ihn bis direkt ans Hotel. Er steigt aus und tut so, als ginge er hinein. Aber er bleibt in dem dunklen Vestibül stehen, bis sie fort sind, bis das Brummen des Motors verklungen ist, dann tritt er wieder hinaus auf die Straße. Er geht auf die nächste Ansammlung von Lichtern zu, in Richtung des Boulevards am Hafen, wo sich die Cafés und Restaurants befinden. Aber es ist schon spät, und obwohl Freitag ist, sind nicht mehr viele unterwegs, es muss schon ein, zwei Uhr nachts sein. Unter den spärlichen Gästen an den Tischen sucht er nach Branko, aber er kann ihn nicht entdecken, das Hemd mit dem Muschelmotiv ist nirgends zu sehen. Italiener sind da, eine ganze Familie, sie sind gerade mit dem Essen fertig, er nimmt auch zwei ältere Leute wahr, die ein Getränk mit dem Strohhalm trinken und die lärmende italienische Familie mustern. Zwei blonde Frauen sitzen einander vertraulich zugeneigt ins Gespräch vertieft, ab und zu berühren sich ihre Schultern. Männer aus dem Ort, Fischer, ein Paar. Welch ein Glück, dass ihn niemand beachtet … Er geht im Schatten direkt am Ufer entlang, spürt den Geruch nach Fisch und den warmen salzigen Hauch des Meeres. Er hat Lust, eine der kleinen Gassen hinaufzugehen, die zu Brankos Haus führen, aber er traut sich nicht, bestimmt schlafen sie schon. Schließlich setzt er sich an einen kleinen Tisch am Rand einer Terrasse. Der Kellner ignoriert ihn.
Er betrachtet die Männer, die auf den Tisch neben ihm zusteuern. Sie setzen sich hin, stellen noch einen Stuhl dazu, sie sind zu fünft. Bevor der Kellner kommt und sie ihre Getränke bestellen, verbindet sie schon ein unsichtbares Einvernehmen.
Sie sind verschiedenen Alters, zwei von ihnen haben dichte Bärte, doch in dem Kreis, den sie unwillkürlich sogleich gebildet haben, verschwinden all diese Unterschiede. Sie reden, aber es ist nicht wichtig, was sie reden, es könnte so aussehen, als schickten sie sich zum gemeinsamen Singen an, als probierten sie ihre Stimmen aus. Lachen erfüllt den Raum im Innern ihres Kreises, Witze, sogar altbekannte, werden erfreut kommentiert, ja sogar gewünscht. Es ist ein tiefes, vibrierendes Lachen, es nimmt den Raum in Beschlag und bringt die Touristen am Nebentisch – plötzlich aufgeschreckte Frauen in mittlerem Alter – zum Schweigen. Es zieht neugierige Blicke auf sich.
Sie bereiten sich ihr Publikum vor. Der Eintritt des Kellners mit dem Tablett voller Getränke wird zur Ouvertüre, der Kellner selbst, ein junger Mann, wird, ohne sich im Geringsten dessen bewusst zu sein, zum Conférencier, der einen Tanz, eine Oper ankündigt. Bei seinem Anblick leben sie auf, eine Hand fährt in die Höhe und zeigt ihm den Platz: hier. Ein Augenblick Stille – und schon wandern die Glasränder zu den Lippen. Der eine oder andere von ihnen – und zwar die Ungeduldigsten – schließt unwillkürlich die Augen wie in der Kirche, wenn der Priester weihevoll die weiße Oblate auf die ausgestreckte Zunge legt. Die Welt ist bereit, umgekrempelt zu werden, nur konventionshalber ist der Boden noch unter den Füßen und die Decke über dem Kopf, der Köper gehört nicht mehr allein sich selbst, sondern ist Teil einer lebendigen Kette, eines lebendigen Kreises. So wie auch jetzt die Gläser wieder zum Mund geführt werden, der Augenblick selbst, in dem sie geleert werden, ist fast unmerklich, es geschieht in blitzartiger Konzentration mit einem kurzzeitigen Ernst. Ab jetzt werden sich die Männer an ihren Gläsern festhalten. Die Körper rings um den Tisch fangen an zu kreisen, die Scheitel werden in der Luft Kreise beschreiben, erst kleinere, dann größere. Sie werden sich überlagern, neue Lücken entstehen lassen. Schließlich werden sich die Hände erheben, zuerst werden sie ihre Kraft in der Luft erproben, in Gesten, die Worte illustrieren, dann werden sie zu den Schultern der Kameraden wandern, zu ihren Armen und Rücken, sie klopfen und stützen. Die Verbrüderung der Hände und Schultern ist keine Zudringlichkeit, es ist ein Tanz.
Kunicki schaut voller Neid zu. Er würde gerne aus dem Schatten kommen und sich ihnen anschließen. Eine solche Intensität kennt er nicht. Ihm steht der Norden näher, wo die Männer in Gemeinschaft zurückhaltender sind. Doch im Süden, wo Sonne und Wein den Körper schneller und ungenierter lösen, wird dieser