Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich
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(3) Der Fortschrittsglaube in immer weitere wissenschaftlich-technologische Erfindungen, die alle Probleme der Zukunft lösen werden und keine neuen erzeugen, ist bis heute ungebrochen. Viele denken, dass auch die Erfindungen grenzenlos sind. Dabei müsste die Atomenergie mit ihrer nicht handhabbaren Verseuchung durch Atommüll ebenso eine Warnung sein wie die Atombomben, die den Weltuntergang sehr viel schneller herbeiführen können als die gegenwärtige Ressourcen- und Umweltkrise. Ist der Fortschritt durch Forschung nicht längst ein Mythos, der nur dort Realität wird, wo sich massenhaft Gewinne machen lassen? Es gibt längst eine Disproportion zwischen der mangelhaften Nachhaltigkeit und dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt, der noch zu sehr im Zeitalter der Nicht-Nachhaltigkeit verhaftet ist und dort für Gewinnmaximierung sorgen soll. Das Beispiel Auto zeigt dies eindringlich. Der heute propagierte Umstieg vom Abgas- zum Elektroauto soll den Erhalt der Autokonzerne sichern, die deshalb keine wirklich nachhaltige Technik in Massenproduktion anbieten können, weil sie zuvor Entwicklungskosten gescheut haben. Das Elektroauto ist von vornherein ein schlechtes Zwischenprodukt, dessen Energiebilanz auf Ökostrom angewiesen ist und dessen Restmüll neben der Ressourcenverknappung bei der Herstellung direkt in neue Sackgassen fehlender Nachhaltigkeit führt.
Diese drei Handlungs- und Denkweisen gelten schon lange. Während noch im 19. Jahrhundert die Intensivierung der Arbeit und die Auspressung der Menschen bis hin zur Kinder- und Sklavenarbeit an Intensität – bis zur Begrenzung durch demokratische Rechte – ständig zugenommen haben, so sind es in der Gegenwart eher die Produktivitätsgewinne, die im Inland wie im globalen Handelsverkehr höhere Gewinne sichern. Die koloniale Strategie, die vor allem den kolonialen und missionarischen Begehrlichkeiten in der Ausweitung des Raums und der Ideenwelten, den der Kapitalismus beansprucht, entspricht, bildet bis heute einen Hintergrund für das Verhältnis der reichen zu den armen Ländern. Nicht nur Rohstoffe wurden enteignet, auch Menschen versklavt, und der Sinn der Unternehmungen wurde als heiliger Krieg gegen die Ungläubigkeit auch stets religiös als gottgefällig ausgelegt. Generell sichert der Zusammenschluss von arbeitsam – Menschen, die die Intensivierung der Arbeit in allen Formen akzeptieren – und religiös missioniert eine Anpassung an die Herrschaftsverhältnisse vor Ort, wie sie typisch für viele auf Wohlstand orientierte Länder wurde. Das Drängen nach materiellem Wohlstand und Überfluss ist dabei stets stärker als die Gedanken daran, was all die Produktion und Ausbeutung der Menschen und Ressourcen für den weiteren Gang der Welt bedeuten.
I.1.2Die soziale Nachhaltigkeit als Dauerthema des Kapitalismus
Die kapitalistische Produktion hat zwei Gesetzmäßigkeiten entwickelt, die die Nachhaltigkeit als Kostenfaktor erscheinen lässt. Für die kapitalistischen Gewinne sind sowohl erhöhte Kosten für sozialere Arbeitsverhältnisse als auch solche zum Schutz der Natur, Umwelt und Ressourcen nicht erstrebenswert. Vor allem hat die Produktionsweise ein Bewusstsein entstehen lassen, das die Vermeidung solcher Kosten auch gar nicht für problematisch hält. Deshalb kann sich an diesem Umstand ohne Kampf nichts ändern. Die Arbeiterbewegung mit Gewerkschaften und sozialen Kämpfen hat sich für die Arbeitenden eingesetzt und geholfen, deren Lage zu verbessern. Für die Nachhaltigkeit sieht es deutlich schlechter aus. Eine Umweltbewegung setzt im Grunde viel zu spät ein, um auf die Dimension fehlender Nachhaltigkeit als Grenzen des Wachstums aufmerksam zu machen. Und da die Umwelt Kosten verursacht, die auch die Arbeitenden unmittelbar zu spüren bekommen, weil es ihren Kampf um höhere Löhne beeinflusst, ist für die Arbeiterbewegung oder das, was von ihr heute noch geblieben ist, die Nachhaltigkeit auch eher ein sekundäres und durchgehend problematisches Thema. Denn auch die Arbeitenden haben erkannt, dass die ihnen durch Nachhaltigkeit aufgeladenen Kosten den erkämpften Wohlstand schmälern werden.
Die ökologische Kritik setzt am kapitalistischen Verwertungsdenken an, das immer nur die Kosten der Nachhaltigkeit fokussiert (etwa Karathanassis 2003, 2015, Altvater 2007). Das mag für die Kritik der Gewinnmaximierung sinnvoll sein, aber ich möchte hier grundsätzlicher fragen, wieso gerade in den Kämpfen der kapitalistischen Arbeitswelt zwar die soziale Frage um gerechte Entlohnung, um mehr Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit immer betont wird, aber die Nachhaltigkeit als relevantes Thema erst spät entdeckt und bis heute eher verharmlost wird. Insbesondere die Sozialdemokratie tut sich schwer damit, den sozialen Kampf mit dem Kampf um Nachhaltigkeit zu verbinden.
Soziale Gerechtigkeit als Dauerthema
Wenn die Arbeit der Antrieb der kapitalistischen Moderne ist, so ist die Frage der sozialen Gerechtigkeit der Entlohnung und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum eine notwendige Folge. Wie gerecht sind die Löhne, wie groß ist der Abstand zu den Gewinnen, wer trägt die größeren Risiken? Die soziale Nachhaltigkeit ist für die Mehrheit der Gesellschaft, aber insbesondere für die untere Klasse, ein Dauerthema im Kapitalismus.
Qualifikation und Dequalifikation von Arbeitskräften sind dabei zwei dominante Tendenzen im Kapitalismus, und sie bilden ein Spannungsverhältnis, das sowohl die Arbeitenden im kapitalistischen Unternehmen nach Einstufung und Entlohnung als auch alle Heranwachsenden nach Selektion und Aufrückung unterscheidet. Einerseits hat die Anzahl an Arbeitskräften zugenommen, die immer stärker qualifiziert werden müssen, um mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und den Anforderungen Schritt zu halten und diese auch fortzuentwickeln. Andererseits bleiben in großen Teilen der Produktion und vor allem auch in wachsenden Dienstleistungsbereichen einfache Tätigkeiten erhalten, oder es entstehen neue, in denen möglichst billige und gering qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Die Qualifizierung selbst ist ein Risiko, das auf die Arbeitenden abgewälzt wird, denn es ist allein ihnen überlassen, sich vor der Suche einer Arbeit so zu qualifizieren, dass sie überhaupt gebraucht werden, hinreichend dafür ausgebildet sind und hinreichend produktiv erscheinen. Hinzu kommt, dass der einmal Qualifizierte nie Gewissheit hat, ob er morgen nicht zu den Dequalifizierten gehören wird.
Risiken und Chancen sind ungleich verteilt
Generell gibt es im Kapitalismus kein Recht auf Arbeit, sodass die Risiken bei Verlust eines Arbeitsplatzes bei den Arbeitenden selbst liegen oder bedeuten, auf niedrigere Tätigkeiten angewiesen zu sein, um überhaupt ein Einkommen zu erzielen. Die Risiken auf Seiten der Unternehmen werden gern dramatisiert, da durch Investitionen, die sich nicht rentieren, große Vermögen verloren gehen können. Aber in der Geschichte des Kapitalismus zeigt sich ein enormer Erfindungsreichtum, die rechtliche Vermögenshaftung durch Firmenkonstruktionen in der persönlichen Haftung zu begrenzen. Insoweit mag der Maßstab der Risiken nach der Höhe des Verlustes zwar sehr unterschiedlich ausfallen, aber das Risiko für das Überleben ist bei der ärmeren Klasse deutlich höher. Deshalb springt der Staat als Risikoagentur im Laufe der Zeit auch ein, wobei durch Steuereinnahmen von den Löhnen die Arbeitenden als Masse proportional deutlich höher als die Reichen belastet werden.
In den Anfängen war der Kapitalismus