Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

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Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich

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meist seriellen Fertigungen ausführten. Im Handwerk und anderen Berufsbildern gab es allerdings auch eher ganzheitliche Arbeiten, die auf bestimmte Arbeitsfelder oder Dienstleistungen ausgerichtet waren. Die Arbeitsverhältnisse tragen vor diesem Hintergrund einen grundsätzlichen Widerspruch in sich: Einerseits benötigt eine Vielzahl von Arbeiten und Nutzungen eine zunehmende Qualifizierung der Menschen, um der wachsenden hohen Geschwindigkeit, der Komplexität und Technologie sowie den Kooperations- und Kommunikationsformen, die damit verbunden sind, zu entsprechen. Andererseits gibt es immer noch eine Vielzahl dequalifizierter Arbeiten, die nur geringe fachliche Voraussetzungen benötigen. Auffällig ist, dass die Industrieländer in ihrer Entwicklung immer mehr qualifizierte Arbeiten benötigen, weil die dequalifizierten Arbeiten in Billiglohnländer verschoben werden. Dies aber führt in den Industrieländern zu neuen Widersprüchen: Wo früher die qualifizierte Arbeit durch den Einsatz einer hohen Lernbereitschaft zu einem relativ sicheren Lohn oder Einkommen führte, da kann sie heute durchaus auch in Arbeitslosigkeit wegen eines Überangebots an qualifizierten Arbeitskräften enden. Die dequalifizierte Arbeit hingegen, die auf Unterqualifizierung beruht, ist besonders problematisch, weil diejenigen mit den schlechten Abschlüssen bereits jung in eine Dauerarbeitslosigkeit oder Verfügbarkeit für prekäre Tätigkeiten entlassen werden.

       Die soziale Reproduktion der Erfolgreichen

      Die Welt der im System erfolgreichen Menschen ist dabei an Klassifizierungen gebunden, die als symbolische Formen einer Zuweisung von Eintritten und Aufrückungen in die Arbeitswelt gelten. Wesentlich sind die Abschlüsse aus Erziehung und Bildung, die in der sozialen Reproduktion eng mit den Vorteilen einer bereits gebildeten oder begüterten Familie verbunden sind. Hinzu tritt die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der als Besitzstand nicht nur die mögliche Zeit für eine Ausbildung erlauben kann, sondern auch den Wohnraum und den Wohnort stellt, der Gewicht und Macht in der Konkurrenz mit anderen verleiht. Die Schwachen sind weniger geschützt, ihre Orte sind unsicherer, ihre Lebensverhältnisse sind offener für Eindringlinge von innen und außen, ihr Leben kann leichter willkürlich neu geordnet und verändert werden.

       Die Arbeitswelt hat ein Nachhaltigkeitsproblem

      Verausgabte Zeit, so ist es im Alltagsbewusstsein der Moderne verankert, erzeugt Lohn und Einkommen. Zeit erzeugt aber auch Kosten, sofern sie von Tätigkeiten abgezogen werden muss, weil der Haushalt zu führen ist, die Kinder zu erziehen sind oder die freie Zeit gelebt sein will. So ist die Arbeitszeit von der Freizeit unterschieden, obwohl die Menschen auch in der freien Zeit arbeiten. Hier zeigt sich die gesamte kapitalistische Situation auf einen Blick: Es ist nicht die Zeit des Arbeitens, die den entscheidenden Unterschied setzt, sondern für wen und was der Mensch arbeitet. Vor diesem Hintergrund gibt es wichtige Aspekte, die zum Grundwissen der kapitalistischen Lebensweise gehören (obwohl sie kaum in den Schulen unterrichtet werden):

      Die Arbeitsteilung erhöht den stofflichen, materiellen Reichtum und die Produktivität einer Gesellschaft. Dies schafft Chancen, sowohl qualitativ wie quantitativ mehr Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Voraussetzung ist die Entwicklung zielgerichteter, organisierter, mehr oder minder planmäßiger Arbeit, die sowohl eine fremde als auch eigene Beurteilung, Überwachung, Bewertung und Selbststeuerung aller Tätigkeiten bedingt. War früher die Aufteilung in körperliche und geistige Arbeit für die Lebenschancen entscheidend, so ist es heute das Spannungsfeld zwischen Spezialisierung mit enger Verwendbarkeit und nachfragebezogener Qualifikation mit zeitlicher Konjunktur. Solche Arbeitsteilung wirkt auch auf das Lernen, die Erziehung und Bildung umfassend ein, wozu eine allgemeine Bildung und berufsspezifische Ausbildungen gehören, aber heute treten immer mehr Konzepte lebenslangen Lernens hinzu, um je nach Nachfragelage umzulernen, umzuschulen und weiterzubilden.

      Dies setzt nicht nur fachliche Qualifikationen im Blick auf unterschiedliche Arbeiten voraus, sondern auch Aufmerksamkeit, Konzentration, Durchhaltevermögen, Zeitmanagement und vieles mehr, die jeweils Arbeiten und Nutzungen begleiten. Die Entwicklung und Differenzierung dieser Arbeiten und Nutzungen in der Geschichte des Kapitalismus bis heute geht mit einer steten Erhöhung der Qualifikationen breiter Bevölkerungsschichten einher. Dabei ist eine deutliche Zunahme höherer Qualifikationen vor allem in den letzten Jahrzehnten zu beobachten, wobei daraus keine automatische Erhöhung der Löhne, sondern vor allem eine Erhöhung der gegenseitigen Konkurrenz folgt.

      Der Antrieb sowohl für die Produktions- als auch die Qualifikationsseite liegt in einer allgemeinen Gewinnorientierung. Die Märkte einschließlich des Arbeitsmarktes regulieren die Gewinnerwartungen und stimulieren die Beteiligten, ihre eingesetzte Zeit effektiv zu nutzen. Zwar mag es auch immer wieder den Luxus der verschwendeten Zeit – nicht primär auf einen Markt gerichteten Zeit – geben, etwa die Künstlerin, die nur für ihre Kunst lebt, aber dann ist die Voraussetzung, dass durch andere Einkommensarten, Erbschaften oder parasitäre Teilhaben ein solches Leben gesichert wird (vgl. Reich 2018 a, Kap. 3). In der Breite bleibt der zeitliche Luxus stets die Ausnahme, wobei sowohl das Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit als auch für Nachhaltigkeit als solcher Luxus verstanden werden, weil sie kein grundlegender Teil der gewinnorientierten Arbeitswelt sind.

      Disziplinierungen wandeln sich in Selbstkontrollen, die bis zum Beginn der Moderne noch durch Fremdkontrollen dominiert waren. Die Versachlichung der Unterordnungen nimmt zu; statt sich überwiegend in persönlicher Abhängigkeit und in Hierarchien bewegen zu müssen, treten nun Sachverhalte und Prozeduren nach Regeln, Gesetzen, Ausführungsbestimmungen in den Vordergrund. Dies sind die Gesetze einer Leistungsgesellschaft, was ökonomisch meint, sich in der konkreten Arbeit (mit Fleiß, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und anderen Tugenden) aktiv angepasst zu verhalten. In der Gegenleistung durch Lohn bzw. höheren Lohn oder Einkommen bei höherer Qualifikation liegt die motivationale Voraussetzung einer Höherqualifizierung mit entsprechendem Aufwand.

      Seit Beginn der Moderne ist zu beobachten, dass die Arbeiten und Nutzungen in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft vielfältiger, komplexer und vernetzter durchgeführt werden. Diese Vielfalt führt zu einer Steigerung der Unterschiedlichkeit, der Kompliziertheit und Spezialisierung. Zeitlichkeit wird zu einem Anspruchsprofil: Wo früher eng begrenzte Berufe ein Leben lang praktiziert wurden, da steht heute ein flexibles, disponibles und mobiles Anforderungsprofil mit breiter Grundbildung und persönlich möglichst umfassenden Kompetenzen im Vordergrund. Entsprechend steigt das Anforderungsprofil an die Lernarbeit. Zielgerichtete, planmäßige, organisierte, systematische und analytische Tätigkeiten nehmen zu, ihnen stehen verstärkt kooperierende, kommunikative und selbstreflexive Momente zur Seite. Unterschiedliche Entlohnungen haben den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital verwischt, weil nun auch die Arbeitenden in unterschiedlichen Lohn- und Einkommensklassen unterschieden sind.

      Die Arbeitsgegenstände und Nutzungsmöglichkeiten verändern sich. An die Stelle von Naturstoffen rücken immer mehr künstliche, synthetische Produkte, und die Arbeitsmittel, die Werkzeuge, Maschinen und Produktionsprozesse wandeln sich stark. Während der Industrialisierung finden unterschiedliche Revolutionen der Arbeit statt, die vom Fließband bis hin zur Teamarbeit reichen, die von der Taylorisierung der Einzelarbeit über die Halbautomation bis zur Vollautomation führen. Im Hintergrund steht hier eine Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Arbeit, die zu einer enormen Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur kreativen Entwicklung neuer Arbeitsgegenstände und Verfahren beigetragen hat. Gleichwohl erzeugen Differenzierungen der Arbeiten eine sehr unterschiedliche Wertigkeit und Entlohnung bei gleicher Arbeitszeit. Dies führt insbesondere zu einer Benachteiligung von Frauen, Menschen mit sozialen Berufen, besonderen Begabungen oder Benachteiligungen.

      Nachhaltigkeit in sozialen Fragen, wobei auf eine angemessene Entlohnung, eine gute Gesundheitsvorsorge, eine Vorsorge im Hinblick auf die Heranwachsenden, eine Beachtung der Umweltfolgen geachtet wird, das muss im Kapitalismus immer erst erstritten werden, weil solche Kosten von den Gewinnen abgehen. Dies gilt ebenso für alle Kosten der Nachhaltigkeit, die nur dann widerwillig in der Gewinnmaximierung geleistet

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