Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich
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Die instrumentelle Rationalität der Moderne sieht neben der Zeit auch den Raum als wichtig an. Er repräsentiert neben der Weite der Welt immer auch die Kostbarkeit des Privatbesitzes, der demonstrativ nach außen als solide und vermögend gebaut wird, nach innen jedoch zweckrational auf Verwertbarkeit der kostbaren Zeit und des knappen Raums durch Aufteilung in mehr oder minder luxuriös nutzbare Zimmer zu Hause oder produktive Stätten in Unternehmen gestaltet ist. Andere Räume, die etwa der Erziehung oder Krankheit dienen, werden dagegen eher sparsam und kostensparend ausgestattet; Natur- und Umwelträume scheinen einfachhin grenzenlos. Gern vergessen die kapitalistisch erfolgreichen Länder die Flächen, die für ihr Vorhaben eingenommen werden müssen. Es ist der äußere Raum der Eroberungen fremder Länder, der Gewinnung von Rohstoffen und Ressourcen, der Gefangennahme, Versklavung, Migration von Arbeitskräften, der Erschließung von Märkten, der Globalisierung. Es gibt eine enge Verbindung von zeitlicher Entwicklung in der Moderne und Flächenbedarf. Der Raum ist im Laufe der Moderne auf der Basis überkommener Besitzverhältnisse zunächst in den freien Flächen verknappt und in den Bebauungen verdichtet worden. Einerseits werden Räume durch kriegerische Handlungen von den Nationen erobert, verloren, auf die Gewinnung von Kolonien verschoben, andererseits führt das wachsende Privateigentum dazu, dass fast alle vorhandenen Flächen in Privatbesitz überführt werden. Der Raum der Welt wird nicht nur immer genauer in der Moderne kartografiert, er wird auch parzelliert und verrechtlicht. Inklusion und Exklusion nach Besitzregeln, nach Zugehörigkeit und Verweigerung des Eintritts, dies sind Grundmerkmale einer Raummacht, die eingezäunt und durch Besitzregeln überwacht wird. Dieser Teil wird in der Nachhaltigkeitsagenda fast immer verschwiegen. Wie sollen wir nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft hinterlassen, wenn diese bereits in die überkommenen Besitzverhältnisse so aufgeteilt ist, dass es kaum noch Spielraum für neue Verteilungen des Raums der Welt gibt?
Wachstum wird zur Leitfigur menschlicher Handlungen
Es dauerte einige Zeit in der Moderne, bis die Kraft der Beschleunigung verstanden werden konnte. Obwohl im Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Renaissance der Antike mit ihrer eher langsamen Zeit erschien, so blieb diese im Grunde oberflächlich. So machte es für die Olympischen Spiele in der griechischen Antike keinen Sinn, etwa Zeiten zu messen, Weiten zu bestimmen oder objektive Leistungslisten im Sinne von höher, weiter oder schneller zu führen, weil es in jedem Ereignis und Spiel nur um eine Situation mit einem konkreten Gewinner ging. Der griechische Begriff scholé, der heute in »Schule« erscheint, bedeutete Muße und war ein Konzept der Entschleunigung und des Gesprächs (vgl. Welskopf 1962), das war eine ganz andere Art der longue durée. Die Moderne transformierte solche Muße in eine strikte Ordnung von Kosten und Nutzen mit zunehmender Beschleunigung. In ihr beginnt schon seit dem 15. Jahrhundert mit vielen lokalen Unterschieden und etlichen Vorformen ein Zeitalter der Uhren, des Messens nicht nur von Zeiten in allen Formen, sondern auch eine Vermessung der Welt, die später dann auch den Makro- als auch den Mikrokosmos einschließt (vgl. Cipolla 1978). Dies führt nicht nur dazu, dass die Zeit immer effektiver genutzt und dabei in der Schnelligkeit der Verrichtungen beschleunigt werden soll (Whitrow 1988), sondern auch, dass die Räume verdichtet und schneller durch ein Netz von Verkehrswegen zugänglich werden. Die Natur, die entgegensteht, wird verändert und an die beschleunigten Bedürfnisse angepasst, die »schöne« Natur in die Zauberwerke der Gartenkunst verwandelt. Es ist kein Wunder, dass die Romantik genau dann als Sehnsucht auftrat, als der Kosten-Nutzen-Mechanismus dominanter wurde.
Zeit und Raum werden über Geschwindigkeit gekoppelt. Dieser Prozess wird als Wachstum verstanden: äußerlich als steigende Produktion, steigender Gewinn, Ausbreitung des Kapitalismus; innerlich als ein Zwang zur Selbstverwirklichung, Steigerung der Leistung, Durchsetzung. Der Planet Erde wird erkundet, erobert, vermessen, die Zeit erscheint wie ein gemeinsamer Plan, der alle Aktionen strukturiert und ihnen eine Bedeutung gibt. Die Geschichte der Zivilisationen, wie wir sie heute verstehen, ist ein Konstrukt aus diesem Wandel. Die Welt wird dichter und enger, die Zeit vergeht schneller und schneller, weil sie in Geld verwandelt werden kann und über kurz oder lang in das Muster »Zeit ist Geld« verdichtet wird.
In den historischen Beschreibungen über die Entwicklung der Moderne seit dem Zeitalter der Renaissance und mit Brücken in das Mittelalter haben zahlreiche Analysen gezeigt, wie die Beschleunigung von Zeit als Intensivierung der Zeitnutzung und der Einsatz von Maschinen als Produktivitätssteigerung alle Arbeitsprozesse ergreifen und gleichzeitig den Raum zergliedern, ordnen, in Manufakturen und später Fabriken verwandeln. Zeitgleich schreitet die Privatisierung der Eigentumsrechte als eine ursprüngliche Akkumulation der Reichtümer voran und teilt die Welt in eine besitzende Unternehmerschaft und eine relativ besitzlose Masse auf. Es entstehen Märkte, auf denen die Arbeit gegen Lohn und Geld gegen fast alles getauscht werden können
Beobachtbar wird dies äußerlich an der Flächennutzung der Umwelt. Zuerst werden die nationalen Flächen immer stärker als Gewerbe- und Privatflächen erobert und aufgeteilt, dann werden Übergriffe auf die restliche Welt und ihre Flächen und Ressourcen in Gang gesetzt, um den Hunger nach neuen Produktionsstätten, Rohstoffen, aber auch besseren Wohnlagen und statusbezogenen Bauten zu verwirklichen. Zu Beginn der Moderne und in der Entfaltungsphase der kapitalistischen Produktion erscheint die Welt als unendlich groß und frei verfügbar, die Zeit im individuellen Leben ist begrenzt und soll effektiv genutzt werden. Kriege und Konflikte eröffnen dies mit Gewalt und Eroberung, Märkte mit ungleichen und ungerechten Tauschhandlungen.
Aber auch innerlich wird erkennbar, wie die Ordnung in symbolischen Leistungen als Spiegelung des Wirtschaftens zunimmt. »Die Buchhaltung verwaltet Ereignisse, indem sie diese selektiv in verschiedenen Registern – Memorial, Journal, Hauptbuch – aufschreibt und nach Gewinn und Verlust sortiert. Aufgezeichnet werden die Ereignisse auf der Achse der Zeit und innerhalb von bestimmten, für alle Ereignisse gleichermaßen gültigen Zeiteinheiten. Eine solche Notationstechnik sichert Kontinuität und ist damit erst die Voraussetzung einer Wachstumserfahrung.« (Welzer 2011, 19)
Die Leitfigur des Wachstums ist der Wohlstand, ein zunehmender Überfluss, der sich als Reichtum darstellt. »Produktiv diesem neuen Verständnis nach ist ein Reichtum, der die Bedürfnisse aller übersteigt; und produktiv ist eine Arbeit, die nicht mit der Stillung eines Bedürfnisses endet.« (Vogl 2008, 338) Für Vogl (2010) entsteht hierdurch eine ständige Selbstüberschreitung aller Grenzen der Lebensweise, Streeck (2016) sieht Anzeichen, wie dadurch der Kapitalismus an sein eigenes Ende geführt wird; Welzer (2011, 24) folgert hieraus: »Und genau in dieser Gestalt geht Arbeit in die nationalökonomische Theoriebildung ein: als eine in sich unbegrenzte endlose Tätigkeit, die kein spezifisches, abgegrenztes, im Produkt aufgehobenes Ziel hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient – mithin der nie endenden Produktion von ›Wachstum‹. Diesen Vorgang hat Marx mit dem Verschwinden der konkreten Arbeit im Tauschwert bezeichnet. So wie die Arbeit damit unaufhörlich wird, so wird jeder Augenblick im Leben, jede Stufe im Lebenslauf, jeder Euro auf dem Konto lediglich zur Vorstufe jedes nächsten Abschnitts, jedes weiteren Euro. Und das Selbst ist in jeder Biografie immer nur Vorstufe eines Selbst, das noch Weiteres zu erreichen hat.« Da die Gewinne in der Regel nicht mit der, sondern gegen die Nachhaltigkeit gemacht werden, führen die Steigerungen zu immer größeren Überschreitungen der planetaren Grenzen.
I.1.1.2. Industrialisierung und die Hoffnung auf Wohlstand
Die Zeit der schweren Moderne, die Industrialisierung, ist eine Zeit großer