Die großen Reden der Weltgeschichte. Martin Kaufhold
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Der hier ausgewählte Text ist der letzte Teil der „Apologie“ des Sokrates. Er hat sich bereits gegen die Ankläger verteidigt, er hat seine Lebensweise in Athen dargelegt, er ist schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden. Nun richtet er den letzten Teil seines Auftrittes vor dem großen Gerichtshof von Athen an seine Anhänger, Schüler und Freunde. Ein nüchterner alter Mann nimmt dem Tod seinen Schrecken. Es ist nicht nur eine Frage der Logik, es ist auch eine Frage des Temperaments. Sokrates nähert sich dem Lebensende mit dem Verstand. Sein Todesbild ist frei von Angst, aber es ist auch frei von einer sinnlichen Dimension. Wenn er die Aussicht auf die vielen Gespräche mit den Helden des Homer entwirft, auf die Dialoge mit Odysseus, so kommt ihm die Frage nicht in den Sinn, ob das Leben nur aus Gesprächen und Worten besteht? Man fühlt sich angesichts solcher Aussichten auch an die Mühen eines solchen Schattendaseins erinnert, das keine sinnlichen Erfahrungen mehr zulässt, und über das sich mancher Held der Antike bitter beklagte. Sokrates schreckte diese Einschränkung nicht. Sokrates ist häufig mit Christus verglichen worden, und seine Berufung auf die starke göttliche Stimme, die ihn vor Handlungen gewarnt hatte, die schlecht für ihn waren, ist in die Nähe des christlichen Gewissens gestellt worden. Aber der Gott, auf den sich Sokrates seinen Richtern gegenüber beruft, ist kein christlicher Gott, und die Gewissheit, mit der Sokrates seinem Tod entgegensieht, ist noch frei von einer christlichen Unruhe angesichts des göttlichen Gerichts. Man fühlt sich durchaus versucht, die Rede des Sokrates angesichts seines Todes mit einer anderen großen Ansprache in ähnlicher Sache zu vergleichen, die unter ganz anderen Umständen vorgetragen wurde: Hamlets großem Monolog über „Sein oder Nichtsein“. Dazu ist hier nicht der Ort, aber es ist doch auffällig, wie unterschiedlich die Reaktionen angesichts solcher grundsätzlicher Erfahrungen sind. Auch Hamlet teilt die Erwartung: „Sterben – schlafen – schlafen!“ aber seine Reaktion ist anders: „Nur dass die Furcht vor jenem unentdeckten Land, aus dem/kein Wandrer wiederkehrt – den Willen irrt,/ Dass wir die Übel, die wir haben, lieber/Ertragen, als zu unbekannten fliehen.“ (Hamlet, III,1). Sokrates hatte dagegen seinen Richtern klar entgegengehalten, dass er den Tod, den niemand kenne, deswegen auch nicht fürchte. Denn er fürchte ein bekanntes Übel mehr, als eines, das vielleicht gar kein Übel, sondern etwas Gutes sei.
Sokrates erscheint in der Apologie als ein unerschrockener Mann. Und während des verbleibenden Monats, den er in der Haft verbrachte, auf die Vollstreckung des Urteils wartend, bewies er, dass dies keine rhetorische Figur, sondern eine Lebenshaltung war. Zwar haben sich unsere Erwartungen an die Erfahrungen nach dem Tod in den fast zweieinhalbtausend Jahren, die seitdem vergangen sind, deutlich verändert, aber die Unerschrockenheit, mit der Sokrates in seiner Apologie auf diese Herausforderung reagiert, sichert ihm einen berechtigten Platz in der langen Geschichte unserer Kultur.
REDE
Nur um einer gar kurzen Zeit willen, Ihr Athener, werdet Ihr nun den Namen behalten und den Vorwurf von denen, welche die Stadt gern lästern mögen, dass Ihr den Sokrates hingerichtet habt, diesen weisen Mann. Denn behaupten werden die nun freilich, dass ich weise bin, wenn ich es auch nicht bin, die Euch lästern wollen. Hättet Ihr nun eine kleine Weile gewartet: so wäre Euch ja dies von selbst erfolgt. Denn Ihr seht ja mein Alter, dass es schon weit fortgerückt ist im Leben, und nahe am Tode. Ich sage dies aber nicht zu Euch allen, sondern nur zu denen, die für meinen Tod gestimmt haben. Und zu denen sage ich auch noch das Folgende. Vielleicht glaubt Ihr, Athener, ich unterläge jetzt aus Unvermögen in solchen Reden, durch die ich Euch hätte überreden können, wenn ich geglaubt hätte, all das sagen und tun zu können, was nötig gewesen wäre, um dieser Klage zu entkommen. Ganz und gar nicht! Ich unterliege freilich aus Unvermögen, aber nicht an Worten; sondern aus Mangel an Frechheit und aus Scham, und aus Mangel an der Bereitschaft, so zu Euch zu sprechen, wie Ihr es am liebsten gehört hättet, wenn ich gejammert und geklagt hätte, und vieles anderes getan, das meiner unwürdig ist, wie ich behaupte, das ihr aber von anderen zu hören durchaus gewohnt seid. Allein weder vorher glaubte ich der Gefahr wegen etwas unedles tun zu dürfen, noch bereue ich jetzt, dass ich mich so verteidigt habe; lieber will ich mich auf diese Weise verteidigt haben und sterben, als mich anders verteidigt zu haben und weiterzuleben. Denn weder vor Gericht noch im Kriege ist es für mich oder jemand anderen angemessen, darüber nachzudenken, auf welche Art man dem Tod entkommen kann. Auch kann man ja bei Schlachten öfters sehen, dass mancher dem Tod entkommen könne, wenn er nur seine Waffen wegwerfen würde und sich seinen Verfolgern bittend ergebe, und in jeder Gefahr gibt es viele Rechtsmittel, um dem Tod zu entgehen, wenn man bereit ist, alles zu tun und zu sagen. Allein, es ist weit schwerer dem Tod zu entgehen, Ihr Athener, als der Schlechtigkeit, denn sie läuft schneller als der Tod. Auch deshalb bin ich als ein langsamer alter Mann von dem noch Langsameren gefangen worden; meine Ankläger aber, stark und heftig, wie sie sind, sind von dem Schnelleren gefangen worden, von der Bosheit. Jetzt also gehe ich hin und bin von Euch zum Tode verurteilt worden; diese aber sind von der Wahrheit schuldig gesprochen worden der Unwürdigkeit und der Ungerechtigkeit. Und sowohl ich bin mit dieser Erkenntnis zufrieden als auch diese.
Es musste vielleicht so kommen, und ich glaube, dass es so ganz gut ist. Was aber nun hierauf folgen wird, das zu weissagen, gelüstet mich, Meine Verurteiler! Denn ich bin ja auch schon in der Lage, in der Menschen bevorzugt weissagen, nämlich wenn sie den Tod vor sich sehen. Ich behaupte also, Ihr Männer, die Ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tod eine weit schwerere Strafe über Euch kommen, als die mit der Ihr mich getötet habt. Denn Ihr habt dies jetzt in der Erwartung getan, damit von der Rechenschaft über Euer Leben entbunden zu sein. Es wird aber das Gegenteil eintreten, wie ich behaupte. Es werden mehrere da sein, die Euch zur Untersuchung ziehen werden, die ich bisher zurückgehalten habe, die Ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und sie werden Euch umso mehr zusetzen, je jünger sie sind, und je unwilliger Ihr sein werdet. Denn wenn Ihr meint, durch Hinrichtungen zu verhindern, dass Euch jemand tadelt, wenn Ihr nicht richtig lebt, so habt Ihr eine falsche Vorstellung. Denn ein solches Vorhaben ist weder wirklich durchführbar noch ist es edel. Sondern das ist das edelste und einfachste, nicht Andere abzuwehren, sondern so zu leben, dass man möglichst gut sei. Dieses will ich Euch, die Ihr gegen mich gestimmt habt, geweissagt haben, und jetzt von Euch scheiden.
Mit denen aber, die für mich gestimmt haben, möchte ich gern noch reden über dieses Ereignis, das sich zugetragen hat, so lange die Gewalthaber noch nicht fertig sind, und ich noch nicht dorthin gehen muss, wo ich sterben soll. Also, Ihr Männer, bleibt so lange noch bei mir. Es hindert uns ja nichts, und noch gut zu unterhalten, so lange noch Zeit dazu ist. Denn Euch als meinen Freunden will ich die Bedeutung dessen erklären, das mir eben geschehen ist. Denn, Ihr Richter, Euch kann ich mit vollem Recht Richter nennen, mir ist etwas Besonderes widerfahren. Meine vertraute innere Stimme ließ sich in der letzten Zeit häufig vernehmen, und sie warnte mich auch bei Kleinigkeiten, wenn ich im Begriff war, etwas Falsches zu tun. Jetzt ist mir das widerfahren, was wohl mancher für ein besonderes Unglück halten würde, und was man als solches ansehen kann; dennoch hat mich weder heute Morgen, als ich das Haus verließ, noch als ich das Gerichtsgebäude betrat, noch später bei irgendeinem Teil meiner Rede, die Stimme gewarnt. Obwohl sie mich sonst mitten in der Rede zurückhielt, hat sie mich nun in keiner Weise