Liä Dsi. Laotse
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Die erkenntnistheoretische Arbeit, die in unserem Buch geleistet wird, ist nicht gering anzuschlagen. So sind die Antinomien der reinen Vernunft in einer Fassung, die der Kantischen recht nahekommt, aufgestellt (V. 1, 2). Auch ihre Unlösbarkeit ist im Prinzip ausgesprochen, wenngleich die Neigung besteht, in allen Fällen die Kantische Antithese zu betonen. Dies zeigt einen einheitlichen Zug der Gedankenentwicklung, der aus dem dynamischen Relativismus, der die Grundanschauung bildet, sich ungezwungen erklären läßt. In doppelter Weise ist der Mensch in den Weltzusammenhang notwendig verstrickt. Einmal, sofern er Erscheinung ist, ist er das Produkt einer besonderen Konstellation der Elemente, die den Metamorphosen des Lebensverlaufs in der Welt zugrunde liegen. Er taucht auf aus diesem Triebwerk und kehrt zurück in dieses Triebwerk. Geburt und Tod bedingen sich gegenseitig und schließen den Kreis (vgl. I, 4 und folgende). Das Leben des Individuums ist bloß eine zufällige Erscheinung ohne Dauer, nur abhängig davon, wie gerade jene Elemente zusammentreten. Es kann Wesen geben, die zwar dem Leibe nach Menschen gleichen, im Innern aber Tiere sind, ebenso wie der umgekehrte Fall eintreten kann. Auf diese Weise überbrückt sich für unser Werk die schroffe Kluft zwischen Mensch und Tier (II, 18). Zum Verständnis dieser Auffassung lohnt es sich, das Gespräch, das Goethe mit Falk an Wielands Begräbnistag über die Monaden geführt hat, zu vergleichen. Die andere Art der Abhängigkeit des Menschen besteht darin, daß die ganze Erfahrungswelt, die er besitzt, ihm von außen aufgezwungen wird. Gewiß liegen im Menschenwesen notwendige Formen (Kategorien), in die sich alle Erlebnisse einordnen (III, 4); aber diese Kategorien sind bloße Möglichkeiten. Ihre Erfüllung hängt von der Außenwelt ab. Diesen äußeren Einflüssen ist ebensowohl der Körper als der Geist des Menschen zugänglich. Die Erfahrungen, die durch körperliche Einwirkungen gemacht werden, konstituieren das wache Leben. Die Erfahrungen, die sich nur auf die Psyche erstrecken, nennt man Traum. Ein objektives Kriterium für die Wertung von Wachen und Traum existiert nicht (III, 5 ff), ebensowenig wie für die Bestimmung dessen, was geistig normal und abnorm ist (III, 9). Die übliche Wertung ist nur eine Sache der Konvention.
Es verdient bemerkt zu werden, daß neben dem durchgängigen Kausalzusammenhang, der mit gesetzmäßiger Notwendigkeit alles Geschehen bestimmt, ein Platz für die freie Betätigung des Menschen nicht mehr übrig ist (VI, 1). Konsequenterweise wird der Determinismus auf das Innenleben ganz ebenso angewandt wie auf das äußere Geschehen (VI, 10). Der Schein der Freiheit entsteht nur aus der Stetigkeit der Übergänge. Ebenso wie der Wandel in der Zeit so allmählich ist, daß er sich immer erst in größeren Abschnitten erkennen läßt (I, 10), sind auch die Unterschiede der Schicksale in ihren Anfangspunkten so gering, daß sie verwechselt werden (VI, 2. 11). Obwohl dann jedes seinen ganz bestimmten Verlauf nimmt, entsteht auf diese Weise doch der Schein, als könnten aus denselben Bedingungen sich ganz verschiedene Ergebnisse entwickeln, zumal da jeder Mensch unmittelbar nur seine eigne psychische Struktur kennt und sie zum Maßstab nimmt für die Beurteilung der anderen (vgl. VI, 10).
Außer diesem durchgehenden Kausalzusammenhang, dessen Erkenntnis für den »Berufenen«, der sein Urgesetz, den SINN, durchschaut, wenigstens prinzipiell möglich ist, werden aber auch noch besondere Komplexe angenommen, die auf sich selbst beruhen und ihren eigenen Gesetzen folgen (V, 5. 6; VI, 5. 7. 9). Diese Zusammenhänge, die gewissermaßen für sich bestehende Inseln des Zufalls oder der Freiheit innerhalb des großen Weltgeschehens bilden, erinnern in manchem an das, was Goethe das »Dämonische« genannt hat. Vgl. Dichtung und Wahrheit, Band XX: »Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.«
Soweit ungefähr dürfte die Grundlage gehen, die Yang Dschu und Liä Yü Kou gemeinsam ist. In allem Weiteren divergieren sie. Yang Dschu scheitert an der Zusammenfassung der Gegensätze, die darin liegen, daß einerseits die strikteste Notwendigkeit herrscht, die sowohl die Handlungen der Einzelnen als auch ihre Schicksale zwingend gestaltet, anderseits diese Notwendigkeit als blindes Fatum waltet, in dem kein vernünftiger Sinn zu entdecken ist. In der Klage über die Eitelkeit der Welt findet er Töne, die ihn dem »Prediger Salomo« verwandt erscheinen lassen. Da sein Blick ausschließlich auf das diesseitige Leben gerichtet ist, das mit dem Tode notwendig in Moder und Fäulnis übergeht, so kann er natürlich auch keine idealen Güter anerkennen. Alle die Ziele, die die Menschen sich stecken, von der Erlangung des Nachruhms ab bis zum Streben nach einer moralischen Gestaltung des Lebens unter der Herrschaft fester Maximen, sind für ihn eitel Lug und Trug: Tyrannen, die den Menschen ketten, und ihn um das einzige was er hat, sein Leben, betrügen, während sie keinerlei Ersatz für das Verlorene zu bieten vermögen (vgl. Buch VI und VII): Es sind alles nur leere Ansichten, die den Menschen in seinem Streben nach Leben in die Irre führen wie ein verlorenes Schaf (VIII, 23). Damit bricht naturgemäß auch der ganze Bau der Kultur in nichts zusammen, und alle gesellschaftlichen Beziehungen verlieren ihre wesentliche Bedeutung. Höchstens als zweckmäßige Konventionen, sich gegenseitig das Leben erträglich zu gestalten, kommen sie in Betracht (VII, 6). Die Ethik des Yang Dschu entspricht diesen Prinzipien. Menzius hat ihm den Vorwurf des Egoismus gemacht und ihn deswegen, weil es keinen Fürsten für ihn gebe, unter die Tiere gerechnet. Man muß zugeben, daß Menzius instinktiv die unüberbrückbare Kluft herausgefunden hat, durch die er von Yang Dschu getrennt ist. Aber dennoch ist der Vorwurf des banalen Egoismus unberechtigt. Das Individuum als solches hat für Yang Dschu wenig Interesse, höchstens ist es die Menschheit im allgemeinen, die die individuellen Schicksale der Einzelnen mit all ihren Gegensätzen, all ihrem Leid und ihrer Freude gleichzeitig durchlebt (VII, 3). Für den Einzelnen handelt es sich demgemäß darum, daß er sich einfach auslebt (VII, 7), daß er sich all den Regungen, die in seiner Natur begründet sind, rückhaltlos überläßt, unbekümmert darum, zu welchen Folgen es führt (VII, 8). Denn trotz des Lebens Unverstand lohnt es sich nicht, gewaltsam dem Leben ein Ende zu machen, weil auch dazu kein zureichender Grund vorliegt (VII, 10). Vielmehr ist für ihn der einzig mögliche Standpunkt der, sich treiben zu lassen und zuzusehen, was daraus wird; sich dem Leben zu überlassen mit seinen Trieben und zuzusehen, wohin sie führen; und kommt der Tod heran, sich der Auflösung und Verwesung zu überlassen und zuzusehen, was daraus wird.
Der Standpunkt Yang Dschu’s ist durchaus konsequent, und er hat auch die unerfreulichen Folgerungen daraus gezogen, ohne durch irgendwelche Phrasen es zu beschönigen oder abzumildern. Höchstens eine Inkonsequenz könnte man ihm vorwerfen, nämlich die, daß er gegen die Moral und ihre »Unersättlichkeit« polemisiert hat (VII, 4. 18). Das darf ein Prophet des Übermenschentums tun, der neue Werte an die Stelle der alten zu setzen sich berufen fühlt; in Yang Dschu’s Prinzipien liegt keine Veranlassung dazu vor. Gerade indem er selbst das Recht für sich in Anspruch nimmt, sich auszuleben, muß er auch den anderen, deren Wesen durch sittliche Grundsätze bestimmt wird, dieses Recht einräumen.
Ganz anders sind die Folgerungen, die Liä Yü Kou aus den gemeinsamen Prämissen zieht. Gewiß, auch für ihn verliert das empirische Dasein mit der Zweideutigkeit seines Sinns den wesentlichen Ernst. Er kann wohl einmal seiner Frau in der Haushaltung helfen oder ihre beweglichen Klagen lächelnd über sich ergehen lassen (II, 13; VIII, 6); er kann wohl sich im Bogenschießen üben (II, 5); und er kann selbst – auf dem Wind nach Hause fahren (II, 3): das Leben, das er sucht, ist anderswo; denn er zieht das »Jenseits« in Betracht (IV,