Das Ende. Mats Strandberg
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Alle haben jetzt die letzte Gelegenheit, ihre heimlichen Neigungen auszuleben. Nach dem Motto Nutze den Tag. Das Risiko, verhaftet oder zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist minimal. Dafür stehen nicht mehr genügend Polizeibeamte zur Verfügung. Außerdem bleibt keine Zeit mehr für Ermittlungen oder Gerichtsprozesse, ganz zu schweigen von Gefängnisstrafen.
Auch im Krankenhaus arbeitet nicht mehr genügend Personal, sodass es keine Langzeitbehandlungen mehr gibt. Mein Vater geht dennoch hin. Er hält es für nötig, weil so viele Ärzte gebraucht werden. Aber ich glaube, dass er es auch für sich tut. Es ist seine Art von Flucht, um bei sich selbst zu sein, obwohl die Welt um ihn herum eine andere geworden ist. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich dasselbe getan.
Ich habe das dringende Bedürfnis, das Haus zu verlassen. Vielleicht sollte ich einen Spaziergang hinunter zum See machen. Wenn ich die Abkürzung durch den Wald nehme, werde ich schon niemandem begegnen.
Ich schreibe später weiter.
SIMON
Die Luft ist warm und feucht und es ist absolut windstill, als ich über die sanften Hügel am hinteren Ufer des Sees jogge. An mir rinnt der Schweiß nur so herab und Bumbum schenkt mir ein breites Hundelächeln, offensichtlich glücklich darüber, ausnahmsweise mal nicht angeleint zu sein. Ab und an bleibt er stehen und schnuppert an einem Busch oder einem interessanten Fleckchen Gras. Dabei ragt seine weiße Rute wie ein Wimpel steil in die Luft.
Dort, wo der Wald zu beiden Seiten des Wegs wieder dichter wird, ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Noch immer keine Antwort von Tilda. Ich nehme mir fest vor, erst wieder nachzuschauen, wenn ich zu Hause bin.
Aber ich habe es nicht besonders eilig, zurückzukehren. Stina war so sauer auf mich, dass sie anfing zu weinen.
Ich laufe schneller, obwohl der Kater in meinem Körper wütet und es sich anfühlt, als würde mein Herz jeden Moment zerreißen. Die Musik dröhnt aus meinen Kopfhörern. Ich bewege meine Arme dicht am Oberkörper vor und zurück, während ich auf den Untergrund aus Holzspänen und Rindenhäcksel schaue.
Bald ist alles weg, hatte Tilda am Morgen gesagt, als wir von dem Kometen erfahren hatten.
Der Waldboden unter meinen Füßen. Der See. Die Birken am Ufer. Und Bumbum.
Auf einmal überkommt mich ein Schwindel, der mich völlig aus dem Rhythmus bringt, doch ich zwinge mich weiterzulaufen. Jetzt erblicke ich die alte Wasserrutsche zwischen den Bäumen, die früher einmal türkis war. Inzwischen ist sie ausgeblichen und farblos. Das Schwimmbecken ist abgedeckt. Der Kiosk verrammelt. Und auch die Minigolfanlage wurde schon lange nicht mehr benutzt. Auf dem letzten Stück beschleunige ich noch einmal und kurz darauf erreiche ich den Strand, wo ich heftig keuchend und mit Blutgeschmack im Mund die Hände auf die Knie stütze. Sogar auf meinen Handrücken haben sich Schweißperlen gebildet.
Bumbum planscht am Ufer herum und schnappt nach einer an der Oberfläche treibenden alten Plastiktüte aus dem Systembolag.
»Pfui!«, rufe ich und ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren.
Er schaut zu mir hoch und schlabbert ein wenig Wasser. Dann schnaubt er auf und springt schwerfällig zurück zum Ufer. Am Strand angekommen, schüttelt er sich ausgiebig.
Auf dem nahe gelegenen Steg entdecke ich plötzlich eine Person mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf. Als ich genauer hinschaue, dreht sie den Kopf weg, aber ich weiß sofort, dass es Lucinda ist.
Lucinda, Tildas frühere beste Freundin. Die auf den Fotos an Tildas Zimmerwand zu sehen ist. Neben ihr in einem Bus sitzend und schlafend, einander am Beckenrand umarmend, oder auch umringt von anderen aus dem Schwimmverein, und doch scheinen die beiden wie in eine unsichtbare Blase aus Zweisamkeit gehüllt.
Ich selbst bin Lucinda nur ein paarmal begegnet. Damals im Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon angefangen sich zurückzuziehen. Sogar von Tilda. Wie oft musste ich Tilda nach einer weiteren unbeantworteten Nachricht oder einem unerwiderten Anruf trösten?
Ich schaue ebenfalls weg und bin froh, dass Lucinda ganz offensichtlich nicht in Kontakt zu mir treten will, denn ich habe keine Ahnung, worüber ich mit ihr reden sollte.
Ich dehne die Rückseiten meiner Oberschenkel, wobei Schweiß von meinem Gesicht in den Sand tropft.
Als Tilda und ich im vergangenen Herbst ein Paar wurden, redeten alle über Lucinda. Sie hatte gerade ihre Diagnose erhalten und der gesamte Schwimmverein stattete ihr einen Besuch im Krankenhaus ab. Amanda und Elin posteten Fotos von sich auf ihrer Bettkante sitzend und bewunderten ihre Stärke und ihren Mut. Tilda hingegen hasste all das Gehabe und fand, dass sie Lucinda zu einer Figur stilisierten, zu einer Nebenrolle in ihrem eigenen Leben. Die wunderbare Freundin mit dem tragischen Schicksal. Lucinda, deren Mutter an Krebs gestorben war. Lucinda, deren Vater Arzt ist und dem es trotzdem nicht gelungen ist, seine Frau oder seine Tochter zu retten. Die Monate vergingen und die Prognosen zu Lucindas Krankheit waren unsicher und widersprüchlich. Alles war furchtbar kompliziert. Nicht annähernd so wie in irgendwelchen Krankenhausserien.
Inzwischen hat schon lange keiner mehr von Lucinda gesprochen. Von dem Mädchen, das Krebs hat.
Ich richte mich langsam auf und schüttele die Milchsäure aus den Beinen. Auf einmal höre ich Bumbum kläffen. Als ich ihn erblicke, läuft er geradewegs über den Steg.
»Bumbum! Hierher!«
Er tut so, als würde er mich nicht hören, und bohrt dann schwanzwedelnd seinen riesigen Kopf in Lucindas Armbeuge. Plötzlich fällt mir ein, dass wir während unseres Krankenbesuchs bei Lucinda einen Mundschutz tragen mussten, und mich befällt Panik. Schon die harmloseste Erkältung oder der kleinste Infekt könnten sie umbringen.
Ich laufe zum Steg und rufe noch einmal nach Bumbum. Der Hund schaut freudig auf, bevor er Lucinda die Wange leckt. Sie versucht ihn wegzuschieben. Eigentlich dachte ich immer, dass Hunde eine Art sechsten Sinn dafür hätten, wie sich Kranke fühlen, doch das gilt offenbar nicht für Bumbum.
Der Steg schwankt unter mir. Bei Lucinda angekommen, ziehe ich ihn sofort von ihr weg, woraufhin er spielerisch nach meiner Hand schnappt.
»Ab mit dir!«, fordere ich ihn mit strenger Stimme auf.
Lucinda wischt sich mit dem Ärmel über die Wange und schaut widerwillig zu mir hin.
Irgendetwas in ihrem Gesicht hat sich verändert. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass ihre Augenbrauen fehlen. Ihre Wangen wirken im harten hellen Tageslicht eingefallen. Und dennoch sieht sie irgendwie gesünder aus. Lebendiger.
»Sorry«, sage ich. »Ich hab nicht mitgekriegt, dass er abgehauen ist.«
»Schon okay.«
Unter ihrem Kapuzenpulli zeichnet sich deutlich ihr Schulterblatt ab, und jetzt sehe ich auch, dass die Haare unter ihrer dünnen Mütze nur einen kurzen Flaum