Das Ende. Mats Strandberg
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Ende - Mats Strandberg страница 20
Auf dem Nachttisch steht eine abgegriffene Jungfrau Maria aus Gips, die früher vielleicht mal farbenfroh bemalt war. Ich nehme sie in die Hand und betrachte ihr sanftes Lächeln. Von ihrem Kopf gehen fächerförmig goldene Strahlen ab, die wie Fühler aussehen, und vor ihrer Brust schwebt ein mit Blumen umranktes Herz. Auf Judettes Nachttisch standen bislang noch nie irgendwelche katholischen Reliquien, und ich frage mich, ob sie diese kleine Statuette wohl aus Dominica mitgebracht hat. Und wenn ja, wo sie sie zuvor aufbewahrt hat.
Meine Mütter haben im Lauf der Zeit ihre ganz persönliche Beziehung zu Gott gefunden. Und zwar gemeinsam. Sie glauben an einen Gott, der alle Menschen liebt und ihnen wohlgesinnt ist. Er mischt sich nicht in ihr Leben ein, aber er ist immer da, wenn man ihn braucht. Er verzeiht alles und verurteilt niemanden. Er ist ein perfekter Elternersatz.
Aber sie mussten auch lange nach ihm suchen, denn ihre eigenen Eltern glaubten an einen ganz anderen Gott. Stinas Vater war ein Pastor der alten Schule. Er war gegen Homosexualität, gegen weibliche Pastoren und auch gegen Stina. Wenn er heute noch leben würde, hätte er höchstwahrscheinlich die Wahrhaftige Kirche unterstützt und eine eigene Gemeinde gegründet. Dennoch hat Stina sich immer bemüht, seiner Auffassung in gewisser Weise zu entsprechen. Erst als sie und Judette sich scheiden ließen, hat die Schadenfreude meines Großvaters Stina dazu veranlasst, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Inzwischen ist er tot, Judettes Vater und Bruder hingegen leben noch auf Dominica. Ich bin ihnen zwar nie begegnet, aber ich weiß, dass ihr Gott Judette bestimmt kurzerhand von unserer vernichteten Erde geradewegs in die Flammen der Hölle schicken wird, nur weil sie eine Frau geheiratet hat.
Ich hingegen bin froh, dass meine Mütter ihren Gott gefunden haben und ich mit ihm aufwachsen durfte. Ich habe ihren Geschichten aus der Bibel gern gelauscht und vorm Einschlafen gemeinsam mit ihnen gebetet. Als ich klein war, glaubte ich genauso selbstverständlich an Gott wie an den Weihnachtsmann. Doch jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Immer wenn ich versuche zu beten, habe ich den Eindruck, dass mir niemand zuhört.
Ich muss an Tildas Vater denken und frage mich, ob Klas wohl auch einer dieser Heuchler ist, von denen sie letztens redete.
Stina stellt die Musik im Wohnzimmer leiser und ich überlege, ob ich zu ihr gehen und sie fragen soll, was sie von der Wahrhaftigen Kirche hält. Und wie es sein kann, dass sich einer wie Klas ihr anschließt. Aber mir fehlt die Kraft dazu, denn ich weiß, dass Stina eine Riesensache daraus machen würde. Sie würde sich wahnsinnig darüber freuen, dass ich endlich über etwas Großes und Wichtiges mit ihr reden möchte. Doch ihre Freude würde mir nur wieder ein schlechtes Gewissen machen, weil ich ihr diesen Wunsch viel zu selten erfülle.
Stattdessen gehe ich zum Bücherregal. Beim Lesen der Titel, die mich an früher erinnern, spüre ich einen leichten Schauer über meinen Rücken laufen. Friedhof der Kuscheltiere. Das Schweigen der Lämmer. American Psycho. Tote Richter reden nicht. Ewige Nacht. Uzumaki. Locke & Key. Allein schon die Lektüre des Klappentextes verursachte mir als Kind im Dunkeln Angst. Doch jetzt bleibt mein Blick am Regal mit den Kinderbüchern hängen. Eines davon heißt Komet im Mumintal.
Ich ziehe es heraus und sehe, dass es ein Buch von Tove Jansson ist. Es ist schon so alt, dass es entweder Stina oder Emmas Vater gehört haben muss. Auf dem Umschlag bewegen sich mehrere Figuren auf hohen Stelzen voran in einer Landschaft mit spitzen Bergen, während hinter ihnen ein Feuerball über den Himmel rast.
Als ich anfange darin zu blättern, schlägt mir der Geruch von altem verstaubten Papier entgegen.
»Ich glaube nicht, dass wir besonders mutig sind«, sagte Mumin nachdenklich. »Wir haben uns ganz einfach an den Kometen gewöhnt. Sind fast mit ihm bekannt. Wir haben als Erste gewusst, dass es ihn gibt, und wir haben beobachtet, wie er gewachsen und immer größer geworden ist. Er muss bestimmt sehr einsam sein.«
»Ja«, sagte der Schnupferich. »Man ist bestimmt sehr einsam, wenn alle vor einem Angst haben.«
Ich schlage das Buch wieder zu und stelle es zurück ins Regal.
»Wenn wir jetzt nicht tanzen, wann dann?«, höre ich Stina vom Türrahmen her sagen.
Ich drehe mich um und schaue sie fragend an.
»Das sagt das Snorkfräulein. Im Buch. Du solltest es lesen.«
»Aber es ist doch ein Kinderbuch.«
»Es ist auch für Erwachsene voller Weisheiten«, sagt Stina und setzt sich aufs Bett. »Ein Komet rast aufs Mumintal zu und alle haben natürlich wahnsinnige Angst. Aber trotzdem nutzen sie die ihnen verbleibende Zeit für all das, worauf sie Lust haben.«
Sie schaut mich erwartungsvoll an und in ihrem Blick liegt eine große Sehnsucht. Auf einmal habe ich das Gefühl, dass die Wände auf mich zukommen. Ich halte es nicht länger aus.
»Ich hab jedenfalls vor, heute Abend auf ’ne Party zu gehen«, sage ich. »Falls es okay ist.«
»Eigentlich möchte ich lieber, dass du zu Hause bleibst«, entgegnet Stina.
»Aber darauf hab ich keine Lust.«
Warum bin ich nur so fies zu ihr? Sie presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ich wische mir etwas Staub von den Fingern und murmele etwas von duschen gehen.
Rasch verlasse ich das Zimmer, schließe die Badezimmertür hinter mir ab und versuche meine Panik mit heißem Wasser wegzuspülen. Ich drehe den Warmwasserhahn noch weiter auf, bis ich die Hitze kaum noch aushalte, nur um meinen Körper wieder von Kopf bis Fuß zu spüren.
Als ich in mein Zimmer komme, schaue ich mir das letzte Foto an, das Tilda ins Netz gestellt hat. Es ist während des Fußballspiels entstanden und mit einem Schwarz-Weiß-Filter bearbeitet. Tilda und Elin stehen inmitten der Menge. Tilda lacht in die Kamera. Sie wirkt glücklich.
Hundert Prozent fucked up.
Ich schaue nach, auf welchen Fotos Tilda noch zu sehen ist. Insgesamt vier. Alle vom Fußballspiel. Kein Foto aus den Stunden davor. Und keines danach.
NAME: LUCINDA TELLUS# 0 392 811 002 POST 0008
Ich habe geschrieben, dass du der Einzige bist, zu dem ich ehrlich sein kann, doch das stimmt nicht ganz. Es gibt jede Menge Dinge, über die ich nicht schreibe, weil sie mir so bedeutungslos und lächerlich vorkommen. Zum Beispiel, dass ich mich immer noch nicht damit abfinden kann, kaum mehr Haare auf dem Kopf zu haben. Was tut das denn noch zur Sache, wo wir doch bald alle innerhalb eines Augenblicks in Flammen aufgehen?
Die Algorithmen, die meine Chats steuern, empfehlen mir, einer Gruppe namens Wir, die nicht jungfräulich sterben wollen beizutreten. Das trifft mich hart. Klar, das erste und einzige Mal, als ich Sex hatte, zählt kaum. Es war mit einem todlangweiligen Deutschen in einem Trainingslager in Rimini. Es hat zwar nicht wehgetan, aber es war unangenehm. Eigentlich habe ich es nur getan, um es hinter mich zu bringen. (Und um danach vor Tilda damit angeben zu können. Er hatte übrigens eine kleine spitze Zunge, mit der er in meinem Mund herumstocherte, und währenddessen dachte ich darüber nach, wie ich es Tilda schildern würde, und dann musste ich laut loslachen. Er war natürlich stinksauer. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, mir noch ein halbes Jahr lang Playlists zu schicken, damit ich ihn für seinen guten Musikgeschmack und seine geniale Textauswahl und überhaupt als Supertypen bewundern sollte.)
Eine