Letzte Tage. Matthias Eckoldt
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Matthias Eckoldt
Letzte Tage
Matthias Eckoldt
Letzte Tage
Bibliografische Information der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.
ISBN 978-3-937717-43-2
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010
Lektorat: Cordula Scheil
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
Inhalt
Meinen Freunden
»Viele Box-Weltmeister sind
Alkoholiker geworden,
aber ich bin der erste Alkoholiker,
der Box-Weltmeister wurde.«
Eckhard Dagge
WUT
Toni brauchte diesen Geruch nach Leder, Gummi und Schweiß, das Adrenalin, die Spuren der Seile auf dem Rücken seiner Boxer, den knirschenden Mundschutz, das Hetzen, Anfeuern, Schinden, das Handtuch um seinen Hals, das Rechnen, die Endlosschleifen beim Videostudium, das Grübeln über neue Kombinationen, den Sandsack, gegen den er sich stemmte, wenn seine Boxer richtig in Fahrt kamen und er sie anschrie, weil sie ihn sonst nicht mehr hörten, die gespenstische Ruhe fünf Minuten bevor er die Kabinentür aufstieß und sie durch die Katakomben liefen, raustraten vor die Menge, den verspannten Nacken seines Boxers, den er lockerte bis zum ersten Gong. All das brauchte er, um leben zu können, und er brauchte seinen Trainingsanzug, den er ohne Vertrag nicht anziehen könnte. Da käme sich Toni wie ein Scharlatan vor. Aber um ihn ging es vorerst nicht.
Es ging um Rico.
Als Toni ihn das erste Mal sah, fiel ihm gleich seine Haltung auf. Wenn Rico boxte, lag er windschief nach vorn gebeugt, wie die vier rostigen Stangen auf dem Schulhof, um die der Sportlehrer gelbes Band geknotet hatte. Zu Ehren von Tonis Besuch in jenem kleinen ostdeutschen Dorf. Die Termine bei seiner Talentsuche hielt er sonst so kurz wie möglich, doch diesem Jungen sah er fast eine Stunde beim Boxen zu. Rico hatte eine so präzise Achse im Körper, dass er die ganze Wucht seiner Schwerkraft hinter die Fäuste bekam. Dafür trainierten andere jahrelang. Allerdings boxte Rico das, was Toni als Telegrafenstil bezeichnete: Er stocherte mit seiner Führhand in der Deckung des Gegners herum und feuerte in unregelmäßigen Abständen seine Rechte ab. Egal, ob eine Lücke da war oder ob der Schlag einfach an der Deckung krepierte. Dabei holte er aus wie ein Speerwerfer. So waren seine Schläge hart, aber vorhersehbar: »Willst du Boxer werden?«, hatte Toni ihn gefragt.
»Na klar!«
»Dann hör auf, deine Schläge durchzutelegrafieren. Wenn du so boxt, kannst du höchstens deinen Gegner einschläfern, aber nicht umhauen.«
»Von wegen! Ich gewinne doch andauernd.«
»Zufall!« Das stimmte natürlich nicht. Toni hatte gesehen, was Rico mit seinen Fäusten anrichten konnte – und das, so schätzte er, mit gerade einmal zwanzig Prozent seiner Möglichkeiten. Er holte ihn in die Boxerklasse der Kinder- und Jugendsportschule. Rico gefiel, dass er nur noch zwei Mal in der Woche Unterricht hatte und ihn niemand mehr mit Hausaufgaben quälte. Ab jetzt stand Boxen an erster Stelle, und Sitzenbleiben gab es an dieser Schule nicht.
Beim ersten Einzeltraining band er Ricos linken Arm am Körper fest.
»Jetzt will ich eine saubere Führhand sehen! Los, los, los!«
Rico brachte nicht einen vernünftigen Schlag mit der Rechten raus. Die Plattformbirne bekam er gar nicht in Gang. Zumeist saß nur die erste Faust, dann irrte seine Hand tapsig wie die eines Linkshänders umher. Toni musste lachen.
»Rico, das ist kein Luftballon. Und du bist hier nicht beim Kindergeburtstag! Hau ran, mein Junge! Mach mir einen vernünftigen Rhythmus!«
»Nö. Ich schaff das nicht!« Rico ließ die Rechte sinken. Noch nie schien ihn jemand gefordert zu haben, und so tat Rico nur das, was ihm zufiel. Aber damit war jetzt Schluss. An Ricos Genörgel mochten seine Eltern verzweifelt sein, sicher auch die Lehrer in der Schule, aber nicht Toni. Er wusste genau, wie er ihn dort hin bekam, wo er ihn haben wollte.
»Habe ich gesagt, dass Pause ist? Mach weiter. Lass das Bällchen hüpfen!«
»Es klappt nicht. Verdammte Scheiße.« Rico schlug mit solcher Wucht gegen die Boxbirne, dass es schepperte. Der Lederball flog zurück und traf Rico an der Stirn.
So lief es gut. Training fing für Toni erst dort an, wo es wehtat. Alles andere war nur Amüsement. Freizeitsport.
»Haben wir ein großes Ziel?«
Als Rico leise vor sich hin maulte, fasste ihn Toni im Nacken: »Guck