Tempowahn. Winfried Wolf
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Eine »Allgemeine Geschichte der Technik« fasst die sprunghafte Entwicklung des britischen Kanalbaus wie folgt zusammen: »Bis zum Bau der ersten Kanäle betrug die Länge der schiffbaren Wasserwege [und das waren damals vor allem natürliche Wasserwege, also Flüsse, Seen und der Strom Themse; W. W.] in Großbritannien etwa 1500 Kilometer. 100 Jahre später, im Jahr 1850, gab es – noch ohne Irland – 7000 Kilometer Binnenwasserstraßen.«32 Dies entsprach der Länge, die das westdeutsche Autobahnnetz 140 Jahre später, im Jahr 1990, erreichte. In Großbritannien gab es zwei Durchquerungen der gesamten Insel: eine erste, 1777 eröffnete Wasserstraße, den Grand Trunk Canal, der, indem er die Flüsse Trent und Mersey miteinander verband, eine Wasserstraße durch ganz Mittelengland von der Irischen See bis zur Nordsee eröffnete; und eine zweite mitten durch Schottland, welche heute noch in den Sommerloch-Geschichten über »Nessie« Erwähnung findet: der 1822 eröffnete Caledonian Canal, der Loch Ness passiert.
Bei dem britischen Kanalnetz handelt es sich um keinen Sonderfall. Große und technisch hoch entwickelte Kanalnetze, deren Ursprünge teilweise deutlich früher lagen, die jedoch alle am Beginn der Industriellen Revolution massiv ausgebaut und mit moderner Technik versehen wurden, gab es in vielen anderen Ländern, so auf dem Gebiet der späteren Vereinigten Staaten von Amerika, in Frankreich, Italien, Preußen bzw. Deutschland oder in der Habsburgermonarchie bzw. in Österreich.33
Das Kanalzeitalter wird in der Wirtschaftsgeschichte oft auch deshalb vergessen, weil es, anders als die Epoche der Eisenbahnen, in seinen ersten Jahrzehnten von traditionellen Techniken, wie es sie seit dem Mittelalter gab, geprägt war. Die Transportkähne wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts von Pferden, die auf den Treidelpfaden neben den Kanälen gingen, gezogen. Trotz dieser jahrhundertealten Technik gab es mit dem Kanalbau und mit dem Ausbau der Flüsse eine enorme Steigerung in der Produktivkraft der Transportorganisation: Die Nutzlast, die zu dieser Zeit von einem Pferd auf der Straße transportiert werden konnte, betrug zwischen 600 und 700 Kilogramm. Mit einem Kahn, lediglich von einem Pferd gezogen, ließen sich Lasten von bis zu 50 Tonnen Gewicht befördern.
Mitten im Kanalzeitalter kam es mit der Entwicklung der Dampfmaschine zur bahnbrechenden technischen Revolution. Diese wurde im Transportsektor in größerem Umfang und zu gewerblichen Zwecken zuerst auf Wasserwegen und nicht wie in der Regel berichtet zuerst bei den Eisenbahnen eingesetzt. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte man in Frankreich erste Prototypen von Dampfschiffen. Sie kamen dann in den USA und dort in der Binnenschifffahrt in größerem Umfang zur Anwendung. 1807 wurde in den USA das von dem Franzosen Robert Fulton konstruierte Dampfschiff Claremont in Betrieb genommen. Mitte des 19. Jahrhunderts verkehrten allein auf dem Mississippi und seinen Nebenflüssen bereits eintausend Dampfschiffe – das waren mehr als es zum gleichen Zeitpunkt Lokomotiven im Land gab.
Der Bau von Kanälen brachte bereits, ähnlich wie später der Eisenbahnbau, eine gewaltige Veränderung der Landschaft und der Art und Weise ihrer Besiedelung mit sich. Fabriken, die früher auf und an den Berghängen standen (um Wind- und Wasserenergie auszunutzen), wurden mit dem Aufkommen der Binnenschifffahrt an die Wasserstraßen verlegt; Transportweg waren nun die Kanäle, die wiederum ideal waren, um die entscheidenden Ressourcen Kohle und Erze zu befördern und die Fabriken mit Dampfenergie zu versorgen. Die Arbeitersiedlungen entstanden um die Fabriken herum, woraus wiederum die großen Städte der Industriellen Revolution hervorgingen: Manchester, Liverpool, Birmingham, Leeds. »Jetzt zogen es die Reichen vor, auf die Hügel zu ziehen, oberhalb der Arbeiterklasse-Gegenden mit ihrem Dauer-Smog«, so eine Beschreibung des Kanalzeitalters von Ron Freethy und Catherine Woods.34 Friedrich Engels hat dies am Beispiel der Stadt Manchester konkretisiert, wo »die östliche und nordöstliche Seite (der Stadt) die einzige ist, an welche die Bourgeoisie nicht angebaut hat – aus dem Grunde, weil der hier zehn oder elf Monate im Jahr herrschende West- und Südwestwind den Rauch aller Fabriken – und der ist nicht gering – stets nach dieser Seite hinübertreibt. Den können die Arbeiter allein einatmen.«35
Die Arbeit der Bootsleute im 18. und 19. Jahrhundert war hart. Pferde waren vielfach wertvoller als Arbeitskräfte. Noch 1903, so zitiert eine andere Studie eine zeitgenössische amtliche Schrift, wurden ein »Bootscaptain, sein Bruder und deren Gehilfe von Boot Nr. 186 zu einem Monat harter Arbeit verurteilt, weil sie das Pferd Nr. 111 der Company schlecht behandelten und überbelasteten«.36 Spezifische Jobs der Binnenschifffahrt wie das »legging« sind charakteristisch für die unmenschlichen Beschäftigungsformen jener Zeit: In vielen eng gebauten Tunnels konnten die Boote nicht mehr mit Pferdekraft gezogen werden; die Pferde führte man während der Tunnelpassage um oder über den Berg. Im Tunnel selbst wurden die schweren Boote durch Arbeiter, die ausschließlich diese kurzstreckenbezogene Tunneltransportarbeit verrichteten, wie folgt vorwärtsbewegt: Zwei Arbeiter legten sich am Bug auf das Bootsdeck, mit den Schultern in der Bootsmitte gegeneinander, wobei sie den Kahn mit den Beinen an den beiden Tunnelaußenwänden vorwärts stemmten.
Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich mit der Verbreitung der Eisenbahnen eine harte und volkswirtschaftlich oftmals absurde Konkurrenz zwischen den beiden Verkehrsträgern Wasser und Schiene. In Großbritannien bauten die Railway Companies ihre Strecken bevorzugt parallel zu den Kanälen. In den Vereinigten Staaten betrieben die Eisenbahngesellschaften eine gezielte Politik, um die Binnenschifffahrt und die Kanäle im Wortsinne auszutrocknen; es war ausgerechnet Henry Ford der eine entsprechende Klage führte: »Mit das erste, was die Eisenbahnen taten, war, alle übrigen Transportmittel zu erdrosseln. […] Die Eisenbahnen kauften die Kanalgesellschaften auf und ließen die Kanäle versanden und mit Unkraut und Abfällen verstopfen.«37 Die konkrete Form des Eisenbahnbaus bedeutete, dass damit gewaltige Doppelinvestitionen im Transportsektor und eine groß angelegte Entwertung von früher verausgabter Arbeit verbunden waren. Preiskriege dominierten das Business – und führten zu massiven Lohnsenkungen und zu einer ständigen Arbeitsintensivierung für die in der Binnenschifffahrt und bei den Eisenbahnen Beschäftigten. Dabei wurde das vordergründig einleuchtende Argument, die Eisenbahn garantiere gegenüber der Binnenschifffahrt einen schnelleren Transport, in der Praxis oft relativiert. Indem die großen industriellen Ballungszentren und die Fabriken, Kohlegruben usw. direkt an die Kanäle grenzten und oft erst errichtet worden waren bzw. die Kanäle zu diesen geleitet wurden, indem die Wasserstraßen vielfach sogar in die Kohle- und Erzgruben hineinführten, war ein Haus-zu-Haus-Transport garantiert. Auf der anderen Seite konnten die Eisenbahnen vielfach nur einen gebrochenen Verkehr – mit Umladen von Schiene auf Schiffe oder Schiene auf Chausseen – realisieren. Darüber hinaus konterten die Kanalgesellschaften die höheren Geschwindigkeiten der Eisenbahnen, indem sie »flying boats« einsetzten, Boote, die Tag und Nacht ohne Unterbrechung fuhren und denen an Schleusen und Schwingbrücken der Vorrang vor anderen Booten zustand. Diese flying boats wiederum dienten auch dem – eher preiswerten, mit der Eisenbahn konkurrierenden – Personenverkehr.
Das Kanalzeitalter mit der Binnenschiffsfahrt hat einen gewaltigen Beitrag zur Revolutionierung des Transportsektors geleistet. Bis dahin hatten sich nach Karl Marx die Transportmittel als »unerträgliche Hemmschuhe für die große Industrie mit ihrer fieberhaften Geschwindigkeit der Produktion […], ihrem beständigen Werfen von Kapital- und Arbeitermassen aus einer Produktionssphäre in die andere und ihren neugeschaffenen weltmarktlichen Zusammenhängen« erwiesen.38 In Großbritannien waren vor dem Kanalzeitalter die Wege so schlecht, dass man beim Befahren mit schwer beladenen Wagen vielfach Achsbrüche riskierte. In Österreich lagen Ende des 18. Jahrhunderts die Transportkosten vieler Waren so hoch wie die Herstellungspreise der Waren selbst.39
Voraussetzung für die enorme Steigerung der Transporte und für die Preisrevolution war zunächst eine Standardisierung, wie sie für die spätere moderne Industrie charakteristisch wurde. Bereits früh kam es im Mutterland der Industriellen Revolution zu einer Normierung der Transportgefäße und der Transportwege. James Brindley hatte diese bei der Projektierung des 1777 fertiggestellten Trent and