Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land

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Und die Titanic fährt doch - Ulrich Land Mord und Nachschlag

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– schwarzblau jetzt, nass und glibberig glitzernd von dem bisschen Licht, das ihm die Lampen des Schiffs hinterherwarfen – verschwunden. Irgendwo. In der Finsternis. Achteraus und auf Nimmerwiedersehn. Ich weiß nicht, fünf Minuten vielleicht, vielleicht hat er sechs, sieben Minuten gebraucht, um bei der geringen Fahrt, die wir jetzt machten, an den zweihundertsiebzig Metern Schiff längs zu ziehn. Eine Hand voll Minuten, dann war er vorbei. Und alles war vorbei.

      Und ich wischte mir die Schweißlachen von der Stirn und ließ erst mal die Maschinen stoppen.

      Wo, wo mag das verdammte Biest jetzt sein? Was gäb ich drum, seiner habhaft zu werden. Einfangen, festnageln, eine Antwort auf die Frage aus ihm rausprügeln, was er sich dabei gedacht hat! Und wie sich‘s als Eisberg lebt mit diesem pechschwarzen Gewissen, einen britischen Luxusdampfer ramponiert zu haben. Obwohl, die Hinrichtung des Eisbrockens übernehmen ja ohne jedes weitere Dazutun von dritter Seite die Temperaturen der gemäßigteren Breiten, wo er sich jetzt, vom Labradorstrom erfasst, allmählich, ganz allmählich, aber unweigerlich hinbegibt. Kann ich getrost die Hände in den Schoß legen. Gott sei Dank.

      Ich weiß nicht, ob die zwei im Krähennest vorne eingenickt waren, wäre bei der Kälte eher verwunderlich, oder ob die und wenn ja, über was die geredet haben in dieser Nacht unterm schwarzen Lichtpunktfirmament, ob die gerade den Kopf gesenkt hatten und sich die Hände vors Gesicht hielten, um sich eine Zigarette anzuzünden. Jedenfalls kam die Alarmglocke verdammt spät. Aber ich will die andern nicht, will keinen dafür verantwortlich machen. Will die Schuld nicht abschieben. Weil ich selbst keine Schuld habe. Kein Gran. Im Gegenteil. Man müsste mich eigentlich feiern als den Retter. Als einen Held der christlichen Seefahrt. Hätte ich nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe, das Schiff wäre abgesoffen mit Mann und Maus und Mokka. Gut, bräuchte ich mir jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Bräuchte sich niemand mehr Gedanken zu machen. Auch eine Lösung. Aber ich hab‘ eben gehandelt und also, was weiß ich, an die zweitausend Leben gerettet. Um den Preis von fünfzig, achtzig, ich weiß es nicht, hundertfünfzig Leben. Ohne Opfer war die Rettung nicht zu haben, definitiv nicht.

      Aber darum geht‘s mir nicht, ich muss nicht auf irgendeinen Heldensockel gehoben werden. Ich hab‘ bloß getan, was ich tun musste. Bin nichts als ein einfacher Offizier zur See. Okay, Erster Offizier hier an Bord. Aber mehr auch nicht. Ich will gar nicht in die Annalen der Seefahrtgeschichte eingehen, aber ich will verdammt noch mal auch nicht eingebuchtet werden. Hab‘ noch längst nicht jeden Winkel der Weltmeere gesehn, noch nicht jedem Orkan ins Auge geblickt, nicht jeden weißen Fleck der Ozeanatlanten vermessen. Ich habe noch so viel vor. Also – also lasst mich raus hier, lasst mich hier raus! Ihr habt den Falschen eingesperrt. Nein, niemand, es gehört niemand eingesperrt für diese Nacht. Nicht mal der verdammte Eisberg. Konnte schließlich nichts dafür, dass wir seinen Weg kreuzten. Auch der war von Mordgelüsten nicht beseelt. Auch der war vom Donnerschlag gerührt, von diesem Schuss vorn Bug überrascht. Überraschter noch als wir.

      Dieser Augenblick, dieser eine Augenblick!

      Wir waren genau auf Reisegeschwindigkeit. Endlich. Endlich machten wir die vorgesehenen 22,4 Knoten. Volle Fahrt voraus, westlicher Kurs.

      Position: 41°46‘ Nord, 50°14‘ West.

      23:40 Uhr Bordzeit.

      Am Morgen hatte in der Offiziersmesse für ein paar handverlesene Passagiere der ersten Klasse und Crewmitglieder der Sonntagsgottesdienst stattgefunden. Die letzten Worte des Chorals: »Denen in Gefahr auf See.« Worte, die jetzt natürlich einen völlig neuen Klang haben. Aber davon wusste ich bis 23:39 Uhr nichts. An diesem späten Sonntagabend schien alles ganz normal zu sein. Alles lief präzise nach Plan. Und plötzlich aus heiterem schwarzklaren Himmel ist alles anders. Nichts ist normal. Die Alarmglocke! Aber ich hatte den Eisklotztitan vorher schon gesehn: gradeaus voraus. Blinzle kurz, da trifft mich der Schlag. Kurz bevor er das Schiff trifft. Ich weiß nur eins: Ich hab‘s in der Hand. Ich allein habe es in diesem Augenblick in der Hand. Das ganze Schiff. Mit Mann und Maus und Mokka. 1308 Passagiere, 898 Mann Besatzung. Und eine Entscheidung. Die Entscheidung des Ersten Nautischen Offiziers William McMaster Murdoch.

      In diesen Sekundenbruchteilen. In den Augenblicken zwischen dem Augenblick, als Fleet oben im Krähennest ins Telefon »Iceberg right ahead!« kreischte und Moody »Iceberg right ahead!« nach draußen Richtung offene Brücke brüllte, wo ich stand und starrte, längst mit meilenweit aufgerissenen Augen auf den schwarzblauen Höllenfels starrte, der da langsam, aber erbarmungslos auf uns zu geschwommen kam, right ahead. Und right heißt hier nicht rechts, sondern recht. Recht voraus. Genau gradeaus. Hoffentlich ist das einem Richter begreiflich zu machen. Na ja, da das Verfahren erst mal beim Seegericht landen wird, dürfte das ja wohl klarzustellen sein. Das Biest ist jedenfalls frontal vorm Vorsteven, so frontal, wie‘s nur frontal sein kann. Noch 450 Meter liegen zwischen Eisen und Eis! Keine zwei Schiffslängen. 450 Meter oder 40 Sekunden. Bei unserem Tempo. Zweiundzwanzig Knoten, das bedeutet elf Meter fünfzig pro Sekunde. Also.

      Also gab ich nach einem kurzen Moment des Zögerns »Volle Kraft zurück!« über den Maschinentelegraphen durch und wusste doch, dass allein das Umschalten der Maschinen auf Gegenschub 20 Sekunden frisst. Plus ein gigantisches Mehr an Zeit, bevor überhaupt eine spürbare Geschwindigkeitsdrosselung eintritt. Reine Kosmetik, dieses Kommando. Ein Beruhigungsmanöver für uns selbst, um uns das Gefühl zu geben, dass wir überhaupt was getan haben, nicht einfach kampflos aufgegeben haben.

      Auf alle Fälle den Befehl, das Ruder rumzureißen – na ja, was heißt bei so einem schwimmenden Dinosaurier schon ›Ruder rumreißen‹! – und die linke Schraube ›volle Kraft zurück‹, die rechte ›volle Kraft voraus‹ laufen zu lassen, diesen Befehl hab‘ ich nicht gegeben. Anfängerlektion der nautischen Grundausbildung: Das Schiff einfach auf Linkskurs zu steuern, bedeutet, dass wir den Bug vielleicht grade noch rechtzeitig werden wegziehen können, dass aber das Heck mit Sicherheit genau in den Eisberg hineingedreht wird. Also müsste ich an der entscheidenden Scharnierstelle, an einem ganz bestimmten Punkt wieder nach rechts steuern, um nach dem Bug dann auch das Heck vom Eis fernzuhalten. Aber: Sonnenklar, für ein solches Porting-Around-Manöver mit auch nur einer Spur von Aussicht auf Erfolg, da reichte die Zeit einfach nicht! Hinten und vorne nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Völlig hoffnungslos.

      Das alles schoss mir durch den Schädel, blitzte zwischen den Zeilen dieser winzigen Zeit auf, zwischen dem Ticken des Sekundenzeigers, schoss hin, schoss her, mal hü, mal hott. Ohne dass es wirklich zu einem einigermaßen klaren Gedanken gereift wäre. Aber ich wusste, ich muss mich entscheiden; jedes Zaudern ist tödlich, jede Sekunde, die du ungenutzt verstreichen lässt, kostet soundso viele Menschen das Leben. Ich gab also den Befehl zum Ausweichmanöver nicht! Mit der unausweichlichen Folge, dass ...

      Aber dann spürte ich auf einmal trotzdem, obwohl ich mir absolut sicher war, nichts von Ausweichen gesagt zu haben, spürte ich in den Fußsohlen, dass sich das Schiff einen Hauch Richtung Backbord drehte, millimeterweise, aber das reichte schon; ich musste gar nicht erst zum Rudergänger rübersehn, um zu wissen, was Sache war. Drei Sätze, und ich war direkt neben Hichens. Der sah mich überhaupt nicht an, wandte den Blick keine Sekunde vom Eisberg, starrte ihn gradezu fasziniert an. Ein unglaublicher Magnetismus. Instinktiv drehte er das Steuerrad nach Backbord. Der Mann wollte nur eins: dran vorbei an dem Saustück! Ich sprach ihn an: Er hörte mich nicht. Ich schrie »Mittschiffs«: Nicht mal ein Lidschlag. Ich brüllte, das sei ein Befehl, er solle das Ruder sofort wieder in Geradeausstellung bringen: Er reagierte nicht. Ich rempelte ihn mit den Schultern an, um ihm klarzumachen, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte. Aber er hielt sich krampfhaft am Steuerrad fest und wich keinen Zentimeter. Ein guter Rudergänger lässt erst los, wenn er … aber ich kann den Mann doch nicht einfach so … doch, blieb mir nichts andres übrig. Ich schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ich hatte noch nie jemandem ins Gesicht … irgendwo hatte ich mal gelesen, wenn ins Gesicht, dann immer mit viel mehr Kraft, als man eigentlich will, als man eigentlich kann.

      Hichens blutete aus Nase und Mund, hatte die

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