Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land
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Während man auf dem Luxusdeck zunächst mal nur ein leises Klirren der Kristallgläser wahrnimmt und einen Lufthauch, als gaukle ein schwarzer Engel durch den Salon. Ein, zwei Stunden später sind schätzungsweise die Hälfte der Passagiere und die Hälfte der Crew tot. Vielleicht. Womöglich gibt‘s auch bloß neun- oder sogar nur achthundert Gerettete. Obwohl, selbst das nur dann, wenn wir mal davon ausgehen, dass die Rettungsboote rechtzeitig zu Wasser gelassen werden und das Manöver diszipliniert vonstatten geht.
Und, um in diesem Fantasiegemälde zu bleiben, nur zwei, drei Rumpfkammern mittschiffs – glorioserweise samt Kessel und Notstromaggregat – sind nicht geflutet worden. Darinnen eine Hand voll Menschlein, die nicht in Panik an Deck gestrauchelt sind, sondern tumb oder willig oder beides ihr Schicksal entgegengenommen und sich in den Tiefen des Salons der Nachtschattengewächse verschanzt haben. Und also ihre bizarre Vorstellung hegen und pflegen, der Kahn sei abgenippelt und auseinandergebrochen. Ein Drittel davon dümple nun mit seinen paar wenigen luft- und wasserdichten Räumen in den Tiefen des Atlantiks einher und sei auch nach diesem elend langsam verstrichenen Jahrhundert noch nicht zur Ruhe gekommen. Wie eine Art U-Boot ohne Antrieb. Von dem eingeschlossenen Luftpaket grade eben in der Schwebe gehalten. Und die paar Gestalten hier wollen nicht nur überlebt haben, sondern über die Jahre unsterblich geworden sein! Wer weiß, vielleicht vom in der verbliebenen Luft stetig sinkenden Sauerstoffgehalt, was bekanntlich den Verwesungsprozess ausbremst.
Klar, ihr Denkfiguren, klar, dass ihr unsterblich seid. Zum Spintisieren braucht man keinen Körper. Zum Spuken erst recht nicht. Da ist er eher hinderlich. Ballast. Aber denkt dran, manch einer, der abgehoben, ohne Leib, aber dafür mit reiner, reinster Vernunft vor sich hingedacht hat, ist schwer ins Stolpern geraten! Einer soll dabei sogar in einen tiefen Brunnen gefallen sein und – Thales, war das Thales? – musste sich das Hohngelächter seiner Hausmagd anhören. Woll‘n mal sehn, ihr knorzigen Kobolde da unten, wer von uns am besten lacht! Und eins ist schon mal klar: Wer am lautesten lacht, lacht noch lange nicht am besten.
»Hurra, unsere Leichen leben noch, lächeln noch. Dead man walking. – Kpow!«, grunzt dieser Batman.
Zentraler Treffpunkt der wässrigen Sippschaft: nach wie vor die zum Rauchsalon ausgerufene Ecke des Speiseraums für Butler und Zofen. Oder wahlweise der Palmenhof. Aber um dorthin zu gelangen, muss man die Unannehmlichkeit in Kauf nehmen, durch das kalte Wasser zu tauchen, das auf Grund der vor vier, fünf Jahrzehnten doch noch eingedrückten Fenster in den Rauchsalon erster Klasse eingedrungen ist. Diese Kaltwasserpassage aber ist nur was für Tage, an denen die Heizung mal wieder überfeuert ist und nicht auf ein erträgliches Maß runtergeregelt werden kann, weil Manfred Hart das defekte Steuerelement nicht in die Gänge bekommt. Tage also, an denen die untoten Titanen das Gefühl nicht loswerden, sie würden doch in der Hölle schmoren und dringend eine Abkühlung gebrauchen können. Jedenfalls: Man trifft sich und plaudert über die alten Zeiten. Wir schreiben das Jahr 2012, den 15. April, die hundertste Jubiläumsnacht, um die keiner weiß, weil sämtliche Uhren stehn geblieben, alle Kalender abgelaufen sind und die Versuche, die Tage mitzuzählen, aufgegeben wurden.
Während also die Schönste aller Brünetten die Sichtung des grauen, kaum radiergummigroßen blinden Passagiers beschwört und der Steward das Gegenteil, schaltet sich jener zigarillorauchende Lackaffe ein, bei dem man wegen seiner leiblichen Größe unweigerlich geneigt ist, sich Sorgen zu machen, ob die Luft, die er dort oben einatmet, nicht zu dünn und also der geistigen Brillanz abträglich ist. Ein ewiglanges Elend, das, wie gesagt, darauf insistiert, Batman genannt zu werden. Überhaupt muss man den Kerl, will man seinem kraftstrotzenden Gehabe Glauben schenken, für einen verirrten, aber maßlos von sich selbst überzeugten Vollender und Vollstrecker halten, der der Titanengalerie entsprungen ist. Auch wenn er mit seinem ausgesprochen winzigen, aus einem überbordenden Muskelberg stechenden Kopf, geziert von rund geblähten, vorm Wind segelnden Ohren, jedem antiken Heldenmythos Hohn spricht. Titan Sorte »seltendämlich«. Jetzt springt der Bursche mit einem Satz auf den Tisch, bückt sich, um sich den kleinen Schädel an der niedrigen Decke des Salons nicht noch kleiner zu stoßen, und verkündet, voll wie eine Haubitze, aber präzise die Stimmlage eines frisch erleuchteten Predigerpaters treffend: »Fledermäuse sind keine Nagetiere! Wow. – Batman steht zu Diensten.«
Was die verzweifelte Braunholde zu der vielleicht etwas dünn und adrenalinverzerrt vorgetragenen Aufforderung verleitet: »Dann voran!«
»Krrrh! – Leidenschaft brennt. – Bratta Bratta. – Brennt eiskalt«, dröhnt Batman von seiner wackligen Kanzel herab und stößt sich jetzt doch den Hinterkopf an einem der Deckenträger.
»Kannz doch sowieso keiner Maus watt zu Leid tun. Ma ehrlich!« Das ist unverkennbar Hart, einziger überlebender Heizer und, wie er jedem, der‘s wissen will, und jedem, der nicht, mit wachsender Begeisterung erzählt, ehedem Abbausteiger auf Zeche Auguste Victoria im deutschen Kohlenrevier an der Ruhr. Mit Leib und Seele Bergmann, aber er musste weg aus Deutschland, führte kein Weg dran vorbei. So jedenfalls die Sachlage aus seiner Sicht. Hat die Flucht ergriffen angesichts der martialischen Aufrüstung von Kaiser, Volk und Vaterland. Weichling oder Pazifist. Das kriege ich aus seinem Palaver nicht so richtig rausgehört, aber die fidele Aufmüpfigkeit der Sprüche, die er sich selbst bei niedrigem Alkoholpegel rausdreht, spricht eher für die zweite Variante. Aus politischen Gründen also seit hundert Jahren auf dem Weg in die Neue Welt. Bis jetzt indes noch nicht angekommen.
»Ein graupelziger Herold! Endlich«, schwärmt Angélique Godot, klappert wieder unentwegt mit der Mokkatasse, die sie auf der Untertasse balanciert, und starrt diesen Fledermaushünen an, der sich soeben anschickt, seine unbequeme Position unter der Decke aufzugeben und vom Tisch übern Stuhl die rettenden Gestade der Salonplanken aufzusuchen. »Endlich ein Bote im Boot. Von oben, von draußen. Ein Kassiber meines Mannes!«
»Ihres Mannes? Madame Godot, ich versteh überhaupt nichts mehr«, gesteht Russel. »Ihr Mann? Den gibt‘s doch längst nicht mehr. Godot ist tot. Um des hohen Himmels Willen, den hab‘ ich doch nicht retten können, hab‘ ich doch schon zigmal zugegeben. Müssen Sie mich denn immer an dieses traurige Kapitel erinnern!«
»Godot lebt«, entgegnet Angélique Godot dem konsternierten Bestatter und ergeht sich in Sehnsuchtsverzückungen – ihre Methode, die endlose Zeit totzuschlagen. »Das Leben gibt es noch! Mein Mann sieht von irgendwo herüber zu mir, sieht mich hier auf dieser Endlosreise und hat ein Wohlgefallen. Und schickt mir zum Zeichen diese Maus. Eine Maus als Lebenszeichen.«
»Unsinn!«, der Steward ist dabei, den letzten Rest Contenance fahren zu lassen, »Unsinn! Von außen kann sie schon gar nicht kommen. Sie wäre längst ertrunken auf dem Weg hierher. Wir sind umgeben von einer 82 Millionen Quadratkilometer großen Wasserfläche. Und wollen Sie mir vielleicht mal sagen, wie eine Maus, wenn sie denn bis hierher zu unserem Schiff durchs Wasser gesprattelt wäre, wie sie durch die Rumpfwände unserer Unterseetitanic eindringen soll?! Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, dass sie die Abflussfontänen unserer beiden Pumpen aufwärts geschwommen ist. Das dürfte selbst für den stärksten und hartnäckigsten der Lachse ein Ding der Unmöglichkeit sein.«
»Na ja«, knurrt Hart, »sind ja noch ganz andre Sachen eingedrungen. Damals. Aber Schwamm drüber.«
»Ich hab‘ sie da unter der Anrichte verschwinden sehn, wenn ich‘s Ihnen doch sage!«, stammelt die schöne Brünette mit immer noch schreckgeweiteten Augen.
Und Mme Godot zirpt: »Solange nur eine Maus lebt, lebt auch mein Mann noch, hat er noch nicht die Sterne von der Stirn gestrichen. Gott weiß wo, aber er lebt.«
»Aber Sie wissen, wissen doch«, stolpert der Totengräber über seine eigene Zunge, »Sie haben doch höchstpersönlich miterlebt, wie er mir aus dem Arm – da können Sie doch jetzt nicht allen Ernstes glauben,