Bei abnehmendem Mond. Jörg M. Pönnighaus
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Es kommt vor, dass ein Vater sich um ein krankes Kind kümmert. Aber das ist selten. Eigentlich sehe ich das nur, wenn ein Kind eine Verbrennung hat oder eine Fraktur. Es liegen immer ein, zwei oder auch drei Kinder mit Verbrennungen auf der Station. Die sehe ich mir selbstverständlich regelmäßig an, um bei tiefen Verbrennungen zu entscheiden, wann es Zeit ist für eine Hautverpflanzung. Ich bin froh, dass ich Hautverpflanzungen aus dem ff beherrsche, und finde es ein wenig schade, dass Moses sich so gar nicht dafür interessiert. Wenn ich gehe, werden Kinder wieder durch Keloidnarben verkrüppelt werden. Oder sterben.
Egal.
Dem Kind in dem Bett am Fenster im zweiten Zimmer ging es nicht gut. So wie es in den Armen seiner Mutter lag, stimmte etwas nicht. Ich las mir die Geschichte durch. Vor ein paar Tagen war das Kind mit Durchfall gekommen. Es ging ihm dann scheint’s besser und es sollte schon entlassen werden. Aber dann ging es ihm plötzlich schlechter und es war eine Behandlung mit Ampicillin und Gentamicin begonnen worden. Also mit einer Behandlung für eine Lungenentzündung. Befunde waren nicht aufgeschrieben worden, und vermutlich waren auch keine erhoben worden; sondern waren die beiden Antibiotika einfach so verordnet worden. Nicht einmal die Atemfrequenz war bei dem Kind notiert worden. Nichts.
Ich nahm mein Stethoskop. Hörte das Kind ab. Mit den Lungen war ganz sicher nichts, aber das Kind hatte Fieber, hohes Fieber. Mindestens 40 Grad. Ich sah in der Kurve nach. Am Morgen waren 37 Grad gemessen worden. Na ja, aufgeschrieben worden.
»Wer hat denn Nachtdienst?«
»Mduda«, sagte Lenna.
Ach ja. Das werde ich wohl auch nie erreichen, dass vor allem bei Kindern Fieber wirklich sorgfältig gemessen wird. Es konnte mir ja keiner erzählen, dass dieses Kind am Morgen noch eine normale Temperatur gehabt hatte.
»Messen Sie mal nach«, sagte ich zu Jessica.
Es waren 40,2 Grad. Ich bewegte den Kopf, der Nacken war steif. Das Kind hatte Meningitis. Kein Zweifel.
»Fangen Sie jetzt sofort mit Ceftriaxon an«, sagte ich zu Lenna, »und nach der Visite machen Sie als erstes eine Lumbalpunktion. Als erstes. Mit dem Ampicillin und dem Gentamicin können wir natürlich aufhören. Das hat die Meningitis nur kaschiert.«
Lenna antwortete nichts.
Es gereichte ihr ja auch nicht zur Ehre, dass wieder einmal eine Meningitis übersehen worden war.
Jessica ging, um Ceftriaxon zu holen.
Ich sah ihr nach. »Die halbe Station ist schwanger«, meinte ich.
Lenna lachte. Jessica muss acht Monate schwanger sein, und Lenna ist vielleicht im vierten Monat schwanger.
Ich ging zum nächsten Bett.
Ich fragte Lenna später nach dem Ergebnis.
»Ich habe es nicht geschafft, eine Lumbalpunktion zu machen; aber ich werde jetzt Lothi bitten, mir zu helfen.«
Bei der Morgenvisite konnte Ngumbuke nur berichten, dass das Kind um Mitternacht gestorben war. Der Liquor war trübe gewesen …
»in ihren Armen das Kind war tot.«
Ninashukuru
[5. August 2006]
Es ist seltsam, so um halb drei gerufen zu werden. Bei zunehmendem Mond ist es um die Zeit ganz dunkel, du siehst nur die Lichter vom Krankenhaus rechts vor dir. Die Hähne krähen noch nicht, kein Hund bellt, es ist ganz still. Vielleicht siehst du hinauf zum Kreuz des Südens. Und irgendwie hast du eine große Distanz zu dir selbst und du redest dich mit du an statt mit ich.
Natürlich hoffst du, dass du nur für eine Lappalie gerufen wurdest. Aber du weißt schon, das ist unwahrscheinlich. Wenn du für eine Frau gerufen wurdest, wird es eine Tubenschwangerschaft sein. Und wenn du für einen Mann gerufen wurdest, wird es eine eingeklemmte Hernie sein oder ein akuter Bauch. Und wenn du zur Entbindungsstation musst, dann wird es einen Kaiserschnitt geben. Die Hebammen rufen freilich meist schon das ganze OP-Team und nicht nur den Arzt.
Du leuchtest mit deiner kleinen Taschenlampe auf den Weg vor dir. Du bist ihn schon mehr als tausend Mal gegangen, aber du könntest trotzdem noch über einen Stein stolpern oder in Gedanken die Abzweigung zum Krankenhaus verpassen.
Und du fragst dich, was du hier in diesem entlegenen Teil der Welt eigentlich zu suchen hast.
Es ist seltsam, so um halb drei zum Krankenhaus gerufen zu werden. Zu einer Zeit, wenn sich die Welt irgendwie langsamer dreht. Zu einer Stunde, wenn eigentlich nur Hexen unterwegs sind. Und selbst die scheinen zu schlafen, denn kein Hund bellt, kein Hund jault im Dorf.
Die Frau war eben erst gebracht worden. Eine junge Frau. Mit Bauchschmerzen. Unterbauchschmerzen. Puls 100. Es würde wohl eine rupturierte Tubenschwangerschaft sein. Was sonst? Die Frau hatte ungefähr fünfzig Perlenschnüre um den Bauch. Die musstest du nach oben schieben, um die Frau untersuchen zu können. Sundi Kulwa hieß sie. Die Perlenschnüre sollen den Männern gefallen beim Bumsen. Außerdem befestigen die Frauen natürlich auch ein Tuch an diesen Schnüren, wenn sie ihre Tage haben.
Und dann wollte dir Mduda auch noch eine Frau zeigen, die schon am Nachmittag gekommen war. Auch mit Bauchschmerzen. Sie hatten vergessen, sie dir noch am Nachmittag zu zeigen.
Du schicktest sie beide zum Ultraschall.
Die junge Frau hatte offensichtlich Blut im Bauch. Du aspirierst ein wenig, einfach um ganz sicher zu sein. Sagst, sie sollen das OP-Team rufen.
Die etwas ältere hat nur eine Blinddarmentzündung.
Du wartest auf das OP-Team. Legst dich im Dunkeln auf eine Liege. Wartest. Es ist wieder still draußen. Du hast das Gefühl, du schwebst. So leicht kommst du dir vor. Dann eine Tür. Schritte. Die erste vom OP-Team ist gekommen. Mwahija. Du stehst auf, gehst auch zu den Umkleideräumen.
»Habari ja usiku.«
»Nzuri.«
Du ziehst dich auch um. Lothi kommt, kurz darauf auch Edda. Mduda bringt die Patientin. Lothi leitet die Anästhesie ein. Zügig. Er fackelt nicht lange, vor allem nicht nachts. Kein Getue.
Längsschnitt. Vielleicht einen Liter Blut abgesaugt. Die Schwangerschaft ist erst pflaumengroß in der rechten Tube. Es ist ganz einfach, sie zu exzidieren. Noch den Bauch ausgewaschen.
Du sagst, dass sie die nächste Patientin, die mit dem Blinddarm, bringen können.
Irgendwann kommt Mwachiko mit einer Blutkonserve.
Es ist alles irgendwie weit weg zu dieser Stunde.
Die Frau mit dem Blinddarm.
Halb sechs wieder nach Hause. Es ist immer noch dunkel. Aber die Stimmung hat sich irgendwie verändert. Vielleicht dadurch, dass im Dorf jetzt die Hähne krähen. Aber auch die Dunkelheit selbst scheint anders zu sein. Die Welt hat angefangen sich wieder schneller zu drehen.
Es ist zu spät noch einmal ins Bett zu gehen. Du bittest Jutta, Kaffee zu kochen. Lottchen kommt vom Klo. Kuschelt sich noch schlaftrunken an dich. Noch ganz warm.