Hausgemeinschaft mit dem Tod. Franziska Steinhauer
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Читать онлайн книгу Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer страница 2
Nervös tippte sie eine neue Nummer ein.
»Hier spricht Agneta Paulsson. Meine Tochter ist nicht nach Hause gekommen. Sie ist mit ihrem Vater, meinem Ex, unterwegs. Gottwald Paulsson. Sie meldet sich sonst immer, wenn es eine Verspätung gibt. Aber jetzt kann ich weder sie noch ihren Vater erreichen. Ich habe solche Angst! Du musst mir helfen!«
2
Karell lauschte auf die Schritte über seinem Kopf.
Agneta, dachte er beiläufig, irgendetwas beunruhigt sie. Sein Blick konzentrierte sich wieder auf das Tableau vor ihm auf dem Tisch.
Schon das dritte unheilverkündende Deck. »Sieht wirklich nicht gut aus«, murmelte er. »Schwierigkeiten stehen ins Haus. Und diesmal nicht für mich.«
Karell, der sich, seit er in diesem Carré wohnte, Barbanina nannte, seufzte. »Der Tod! Kein angenehmer Besucher«, ächzte er, als er die letzte Karte umdrehte.
Als er hier einzog, war ihm sofort aufgefallen, wie viele Frauen in den Häusern im Rund lebten. Einsame, die nie einen Partner gefunden hatten, Witwen, denen das Alleinsein nicht gut bekam, überforderte Mütter, deren Männer kein Verständnis dafür hatten, dass sie Erziehung und die Erledigung des Haushalts als Arbeit empfinden konnten und über Müdigkeit klagten, wenn der Gatte nach Hause kam. Karell hatte das Potenzial sofort erkannt. Frauen hatten stets unglaublich viele Fragen zu klären: Wird mein Sohn das Abitur schaffen? Wird meine Tochter mit diesem Mann wirklich glücklich? Geht mein Mann schon wieder fremd? Werde ich bis ins hohe Alter gesund bleiben? Warum kann ich nicht schwanger werden?
Mit diesen Problemen würden sie wohl lieber zu einer Seherin gehen als zu einem Wahrsager. Gedacht, getan. Er genoss es, seine transvestitische Seite ausleben zu dürfen, erschuf für die Kundinnen Barbanina und blieb für die Hausverwaltung Karell. Bisher hatte das Rollenspiel komplikationslos geklappt. Die Kundinnen wollten an Barbanina glauben, das schummrige Licht im Wohnzimmer ließ die bläuliche Verfärbung des Bartwuchses an Kinn und Wangen verschwinden, seidenglänzende Handschuhe bis zum Oberarm verbargen die männlich kräftigen Finger.
Barbanina, die vorgeblich mit ihm verwandte Mitbewohnerin Karells, verließ das Haus praktisch nie. Der junge Mann, der ihr so unglaublich ähnelte, erledigte alle Einkäufe und Behördenbesuche, übernahm selbst Botengänge für sie.
Er selbst hatte schnell bemerkt, wie sehr sie sein eigenes Leben zu dominieren begann, spürte, wie ihm der private Karell mehr und mehr entglitt.
Die meisten älteren Damen beneideten Barbanina um diesen liebevollen Jungen, seufzten wehmütig, wenn sie an ihre eigene Brut dachten, die, einmal großgezogen, weit fortgezogen war und sich in der Regel nur dann meldete, wenn ihr das Wasser bis zum Hals stand und Rettung durch die Mutter vonnöten war.
Nur Ingmar, der Hauswart, schien etwas bemerkt zu haben.
Vor ein paar Tagen hatte Karell ihn »Transe!« zischen hören, als er an ihm vorüberging. Auf so etwas reagierte er natürlich überhaupt nicht, tat so, als sei ihm die Bedeutung des Wortes nicht geläufig oder er habe es schlicht nicht gehört. Ingmar konnte unmöglich mehr als einen Verdacht haben – von irgendeiner Form der Gewissheit war er bestimmt weit entfernt.
»Was nun? Die Karten sprechen eine deutliche Sprache. Soll ich Agneta wissen lassen, welche Botschaft sie haben?«
Wieder wanderten seine Augen zur Decke. Noch immer lief sie hin und her.
»Wahrscheinlich sollte ich mich besser nicht einmischen«, überlegte Karell vernünftig.
Doch Barbanina war eitel.
Sie wollte ein wenig mit ihren besonderen Fähigkeiten angeben.
So griff sie zum Telefon und brachte Karells mahnende Stimme mit einer harschen Bewegung zum Verstummen.
Er fügte sich widerstandslos.
In ihren vier Wänden gab sie den Ton an, hatte er nicht zu mucken.
3
Sven Lundquist schlief unruhig.
Drehte sich von einer auf die andere Seite, stöhnte leise.
Er hatte eindeutig einen schwerwiegenden Fehler gemacht, seine beiden Frauen gegen sich aufgebracht. Das war nicht zu leugnen.
Vorsichtig öffnete er das linke Auge und warf einen forschenden Blick zu Magda hinüber.
Sie schien zu schlafen. Doch das konnte täuschen, mochte einer dieser weiblichen Tricks sein, die sie gut beherrschte und von denen er nur wenig Ahnung hatte. Er war jedenfalls nicht sicher, ob er den gleichmäßigen Atemzügen trauen durfte.
Und das ganze Theater und Gezeter wegen eines stinkenden kleinen Hundes in einem verdreckten Korb an der Hand eines schmuddeligen jungen Mannes mit Dreadlocks!
»Ach, ist der aber süß!«, hatte Lisa gerufen und sich zu dem winzigen Flohtaxi hinuntergebeugt.
Ehe er es noch verhindern konnte, kosten alle ihre zehn Finger durch das Fell des Zwerges mit den großen dunklen Augen.
»Ja, der ist wirklich niedlich«, bestätigte auch Magda und sah den Kleinen … nein, himmelte den Kleinen an.
»Ein Hund! Der muss bei jedem Wetter ausgeführt werden. Bei Wind und Regen, selbst im tiefsten Schnee!«, warnte der Vater.
»Aber das ist doch gar kein Problem«, hatte Lisa behauptet.
»Ach, da staune ich aber! Noch sind Ferien. Aber irgendwann musst du wieder zur Schule gehen! Außerdem lockt der eigene Hund immer auch fremde an.«
»Aber nur die netten«, hatte sich an dieser Stelle das langhaarige Herrchen schmunzelnd eingemischt.
Sven Lundquist ächzte und schlug beide Augen auf.
Magda atmete noch immer ruhig und gleichmäßig.
Ihr Gesicht von ihm abgewandt.
Und so würde es auch bleiben – es sei denn, er fand den jungen Mann und kaufte ihm den haarigen Winzling mit dem verlorenen Blick ab, der dann wahrscheinlich stetig bis zur Größe einer dänischen Dogge heranwachsen würde. Liebe auf den ersten Blick. Da konnten auch die besten Argumente eines Vaters und Ehegatten nichts ausrichten.
Er seufzte erneut.
Seit wann galt »niedlich« als Kriterium für die Auswahl eines neuen Familienmitglieds? Magda hatte ihn, den Witwer mit Kind, doch auch geheiratet, ohne dass auf ihn diese Bezeichnung gepasst hätte! Niedlich, pah!
Dabei war es bis zu jenem Augenblick ein schöner und entspannter Familiennachmittag gewesen.
Lisa hatte sich einen Ausflug zum Kanaltorget gewünscht. Dort stand eine der jüngsten Attraktionen Göteborgs, das Göteborgshjulet.
In 42 Glasgondeln hievte das Riesenrad bis zu 336 Gäste 60 Meter hoch über die Stadt. Ein