Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge
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1. Die Antiquiertheit des Menschen
Günther Anders’ Ansichten über die Technik
»Wenn es im Bewußtsein des heutigen Menschen etwas gibt, was als absolut oder als unendlich gilt, so nicht mehr Gottes Macht, auch nicht die Macht der Natur, von den angeblichen Mächten der Moral oder der Kultur ganz zu schweigen. Sondern unsere Macht. […] Die prometheisch seit langem ersehnte Omnipotenz ist, wenn auch anders als erhofft, wirklich unsere geworden. Da wir die Macht besitzen, einander das Ende zu bereiten, sind wir die Herren der Apokalypse. Das Unendliche sind wir.«4
»Unter den Mächten, die uns heute formen und entformen, gibt es keine mehr, deren Prägekraft mit der der Unterhaltung in Wettbewerb treten könnte. Wie wir heute lachen, gehen, lieben, sprechen, denken oder nichtdenken, selbst wie wir heute zu Opfern bereit sind, das haben wir nur zum allunbeträchtlichsten Teil im Elternhaus, in den Schulen oder in den Kirchen gelernt, vielmehr fast ausschließlich durch Rundfunk, Illustrierte, Filme oder durch das Fernsehen – kurz: durch ›Unterhaltung‹.«5
In den 1950er-Jahren warf Günther Anders die provokante Frage auf, ob der Mensch nicht mittlerweile hoffnungslos antiquiert, also überholt sei, da ihm die Technik den Rang abgelaufen habe. Diese Frage wird eingebettet in eine fundamentale Skepsis gegenüber dem »Gerät an sich«, womit Radio und Fernsehen, die sogenannte Maschinenmusik sowie Abbilder aller Art gemeint sind. Ich nehme Anders’ Diagnose zur kritischen Ausgangsbasis für die Betrachtung der Technik im 21. Jahrhundert.
Günther Anders wurde 1902 in Breslau geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf. Sein Vater war der bekannte Psychologe William Stern. Anders wurde 1923 bei Edmund Husserl promoviert und lernte 1925 in einem Seminar seine erste Ehefrau, die Philosophin Hannah Arendt, kennen. In den Jahren 1930−1932 arbeitete Anders an dem antifaschistischen Roman Die molussische Katakombe, der aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht erscheinen konnte und erst 60 Jahre nach seinem Entstehen, im Jahr 1992, publiziert wurde. 1933 emigrierten er und Arendt nach Paris. 1937 ließ sich das Paar scheiden, worauf Anders weiter in die USA floh. Im Exil blieb Anders ein Außenseiter und fand nie Anschluss an die dortige »scientific community«. Infolge finanzieller Engpässe musste er seinen Lebensunterhalt durch unterschiedliche Tätigkeiten – beispielsweise als Putzmann in den Requisitenkammern von Hollywood – bestreiten. Diese Erfahrungen schärften allerdings seinen Blick für die Charakteristika der modernen Zivilisation. Die erst langsam durchsickernde Wahrheit über die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten sowie der Abwurf der Atombombe über Hiroshima gaben dem Leben und Denken von Günther Anders eine entscheidende Wende. 1950 kehrte er nach Europa zurück und ließ sich in Wien, der Heimatstadt seiner zweiten Frau (der Schriftstellerin Elisabeth Freundlich) nieder. Der Bau weiterer Atombomben und die Möglichkeit der Auslöschung der Menschheit durch einen globalen Krieg wurden für Anders zum bestimmenden Thema der nächsten Jahrzehnte. Anders starb in hohem Alter und bis zuletzt arbeitend 1992 in Wien.6 In einem seiner Werke bezeichnete er seine Tätigkeit als »Gelegenheitsphilosophie« – eine Philosophie, die die charakteristischen Aspekte ihrer Zeit zum Ausgang des Denkens nimmt.
Der Medien- und Technikphilosoph hat sich in den beiden Bänden seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen (Band 1 1956, Band 2 1980) intensiv mit der Seele des Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (Band 1) sowie mit der Zerstörung des Lebens in der dritten industriellen Revolution (Band 2) beschäftigt. Seine Ansichten über die Technisierung der Welt und deren Bedeutung für den Menschen sind bis heute einflussreich. Die Methode der Vermittlung seiner Gedanken beschreibt er selbst als »Übertreibung«. Es gebe Erscheinungen in unserer Welt, bei denen sich die Überpointierung und die Vergrößerung nicht vermeiden lassen, da sie ohne diese Entstellung kaum identifizierbar wären oder gar unsichtbar bleiben würden, so Anders. »Übertreibung oder Erkenntnisverzicht« – vor diese Alternative stellt er seine Leserinnen.
In seinem Werk verfolgt Günther Anders drei zentrale Thesen: (1) Wir sind der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen; (2) wir stellen mehr her, als wir vorstellen und verantworten können; und (3) wir glauben, alles, was wir können, auch zu dürfen, zu sollen, ja sogar zu müssen. Diese Thesen sollen Gegenstand der nächsten Seiten sein und als philosophisches Grundgerüst für weitere Überlegungen dienen.
Einer der bekanntesten Begriffe, mit denen man Anders in Verbindung bringt, ist die »prometheische Scham« des Menschen gegenüber den Dingen, die er selbst hergestellt hat. In der griechischen Mythologie galt Prometheus als ein Freund und Lehrmeister der Menschen. Einer Variante des Mythos zufolge fertigte er die Menschen aus Ton an und verlieh ihnen von verschiedenen Tieren je eine Eigenschaft – z. B. die Klugheit des Hundes. Überdies gab er den Menschen das Feuer zurück, das ihnen wegen Betrugs während einer Opfergabe für die Götter von Zeus genommen worden war. Während Prometheus stolz auf seine Kreationen sein konnte, da er ihnen stets überlegen blieb, drückt die prometheische Scham das Gefühl der menschlichen Unterlegenheit gegenüber seinen perfekt gestalteten Produkten aus, denen der Mensch als mängelbehaftetes Wesen nicht mehr beikommen kann. Anders bezeichnet diesen Zustand auch als das »prometheische Gefälle«. Im Angesicht seiner durchkalkulierten Produkte schämt sich der Mensch, geworden, statt gemacht worden zu sein. Er zieht in seiner Scham das Gemachte dem Macher vor – der verspürte Stolz wechselt vom creator zum creatum. In einer komplexer werdenden Welt von Maschinen wird der Mensch darüber hinaus zunehmend von seinen Schöpfungen assimiliert. Er fungiert nicht nur als Gerät neben Geräten, sondern als Gerät für Geräte. Die Folge ist für Anders das Vertauschen der Subjekte von Freiheit und Unfreiheit: Frei sind die Dinge, unfrei ist nun der Mensch.
Die erste Inferiorität des Menschen gegenüber den Maschinen ist das Scheitern im Vergleich zu ihnen, das sich in Minderwertigkeitsgefühlen äußert. Die zweite Inferiorität folgt aus der Tatsache, dass der Mensch sterblich und von der »industriellen Reinkarnation« ausgeschlossen sei. Anders bezeichnet dieses Phänomen als die »Malaise der Einzigartigkeit« des Menschen. Im strikten Sinn sind unsere Produkte nicht unsterblich. Die Haltbarkeit von Lebensmitteln ist begrenzt, auch Glühbirnen und Autos haben eine überschaubare Lebensdauer. Nicht selten sind es jedoch wir selbst, die unseren Produkten ein Verfallsdatum zuweisen, um die Absatzmärkte lebendig zu halten. Unsere eigene Sterblichkeit dagegen ist nicht unser Werk – sie kann nicht kalkuliert werden. In einem weiteren Sinn sind unsere Produkte dagegen tatsächlich »unsterblich« bzw. »industriell inkarnierbar« – nämlich dort, wo sie in die Serienproduktion gehen:
Als einzelnes hat zwar jedes Stück (diese Schraube, diese Waschmaschine, diese Langspielplatte, diese Glühbirne) seine Leistungs-, Verwendungs- und Lebensfrist. Aber als Serienware? Führt nicht die neue Glühbirne, die die alte ausgebrannte ersetzt, deren Leben fort? Wird sie nicht die alte Birne?7
Ein weiteres Beispiel stellt Hitlers Bücherverbrennung 1933 dar, als tausende Seiten von derjenigen Literatur, die dem Regime nicht genehm war, auf dem modernen Scheiterhaufen einer neuen Inquisition vernichtet wurden. Anders als im verheerenden Bibliotheksbrand im antiken Alexandria, durch den große Teile des damaligen Wissens verloren gingen, wurde bei der Bücherverbrennung des 20. Jahrhunderts keine einzige Seite endgültig verbrannt. Denn von jeder Seite gab es hunderte oder sogar tausend »Geschwister« in versteckten Sammlungen oder im Ausland, die ein, zwei Jahrzehnte später wieder reproduziert wurden.
Wie konnte man damals und wie kann man heute gegen die »Malaise der Einzigartigkeit« aufbegehren? Anders erkennt die Revolte gegen das Gefühl der Benachteiligung in einer Sucht, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Intensität eine erstmalige Erscheinung darstellt und im frühen 21. Jahrhundert ihren Höhepunkt feiern wird. Diese Sucht ist ein Schlüsselphänomen, das in vielen Theorien unseres Zeitalters vorkommt. Die Rede ist von der Bildersucht oder, mit einem Terminus von Anders, der »Ikonomanie«. Die Rolle des Bildes war bereits im 20. Jahrhundert groß – heute ist sie so ungeheuerlich,