Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge
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Die Konferenz heißt TechCrunch Disrupt. Aus dem Konzertlautsprecher hämmert ein Jingle in Endlosschleife: »Disrupt«, ruft eine tiefe Rapperstimme in den abgedunkelten Saal, der Schriftzug Disrupt beginnt psychedelisch auf den Leinwänden zu flackern. Immer wieder ertönt dieser monotone, mitreißende Ruf, so eindringlich vorgetragen wie die Zauberformel eines Indianerstammes: Disrupt, Disrupt, Disrupt. Irgendwann hat der Begriff das Unterbewusstsein jedes Kongressteilnehmers erreicht. Auch ich kann den Namen TechCrunch nicht mehr denken, ohne die Stimme des Disrupt-Rappers gleich mit zu hören. Disrupt ist das Mantra des Silicon Valley. Wichtigstes Wort und zentraler Schlachtruf.34
Disruption ist in aller Munde. Sie fasst ein spezifisches Lebensgefühl zusammen. Laut Keese handelt es sich um eine Art Gehirnwäsche, die gleichzeitig als Aufputschmittel der Avantgarde des Silicon Valley fungiert, die Tag und Nacht arbeitet und sich irgendeinen Sinn einreden muss, um den Stress körperlich und mental auszuhalten. Ergänzend beschreiben der CEO von Google, Eric Schmidt, und der ehemalige Senior Vice President Jonathan Rosenberg in ihrem Buch Wie Google tickt ihre erfolgversprechende Firmenkultur, in welcher die besondere Arbeitsplatzgestaltung einen entscheidenden Faktor einnimmt. Demnach werden die Büros so gestaltet, dass sie maximalen Energiefluss und maximale Überschneidungen fördern.35 Es gibt keine Privilegien, keinen Status und somit keinen Neid. »Zusammen arbeiten, essen und leben«36 – ein Versuch, seine Mitarbeiterinnen an das Unternehmen zu binden, wie wir ihn bereits im Circle kennengelernt haben?
Zurück zur Abteilung X von Alphabet: Dort wird an Projekten gearbeitet, deren Realisierung als sogenannte »Moonshots« alles bisher Dagewesene übertrumpfen soll. Bisher sind nur einige Forschungsvorhaben öffentlich bekannt, aber selbst die in der Öffentlichkeit diskutierten dürften das gewaltige Potenzial offenlegen. So befasst sich das ambitionierte »Project Loon« mit der Versorgung sämtlicher Regionen auf dieser Welt mit Internet. Zu diesem Zweck sollen solarbetriebene Ballone in der Stratosphäre in 20 km Höhe zum Einsatz kommen, um den Großteil der Landesfläche mit LTE-Signalen zu versorgen.
Sri Lanka wäre im Jahre 2015 das erste Land weltweit gewesen, das durch dieses Projekt einen landesweiten Internetzugang erhalten hätte sollen. Gerade ein Drittel der 21 Millionen Einwohner verfügt über einen Netzzugang. Die Verträge wurden bereits bilateral unterzeichnet und seit Februar 2016 ist der erste Ballon zwar in die Luft gelangt, aber laut einer großen singalesischen IT-Nachrichtenseite ist die weitere Implementierung aufgrund von internen politischen Turbulenzen und Kontroversen zwischen der Regierung und Google ins Stocken geraten. Die Daily Mail berichtet von diesem besagten Test-Ballon, der bereits nach einem Tag in der Luft auf eine Teeplantage in der Region Gampola abgestürzt ist, was von offizieller Seite jedoch als kontrollierte Landung bezeichnet wurde.37
Bis zum Ende des Jahrzehnts – wir sprechen von spätestens 2020 – soll die ganze Menschheit online sein, so der Google-Gründer Larry Page.38 Eine Herkulesaufgabe, deren Umsetzung zumindest in Sri Lanka aus technischen Gründen und aufgrund diverser politischer Unstimmigkeiten bislang jedenfalls als gescheitert betrachtet werden muss.39
Zwar beteuert Google – das scheint die nächste Parallele zum fiktiven Circle zu sein – stets altruistische Motive: Der Internetzugang soll Millionen Menschen in Afrika und Asien Zugang zu Bildung und Freiheit ermöglichen, so Mike Cassidy, Hauptverantwortlicher des (Wohlfühl-)Projekts. Dahinter verbergen sich jedoch Geschäftsinteressen des Konzerns. Denn je mehr Menschen Zugang zum Internet erhalten, desto mehr kommt die hauseigene Suchmaschine zum Einsatz. Durch die digitalen Fußabdrücke, die die Besucher im Netz hinterlassen, werden sie (ungewollt) Empfänger personalisierter Werbung über passende Produkte – mit Anzeigen von Google-AdWords. Kurz: Jede Internetkonsumentin hinterlässt Daten, die kommerziell weiterverarbeitet werden. Project Loon kann eine Nation im Worst-Case-Szenario in die Abhängigkeit von einem Monopol treiben, das prinzipiell über Druckmittel verfügt, Preise zu diktieren, steuerliche Privilegien einzufordern oder sogar bei politischen Entscheidungen mitzumischen.
2014 wurde »Google Glass« für ein Jahr auf den Markt gebracht. Es handelt sich dabei um eine hochentwickelte Brille, die sich optisch kaum von einer herkömmlichen unterscheidet. Ihre primäre Funktion besteht jedoch darin, den Träger mit Informationen aus dem Internet oder anderen Datenträgern zu versorgen. Zusätzlich sind benutzerfreundliche Videoaufnahmen sowie blitzschnelle Fotos vorgesehen. Durch leichte Kopf- und Augenbewegungen und durch Sprachbefehle kann die Brille bedient werden. Erste Kritikpunkte an dieser Technologie wurden bald laut, da Datenschützerinnen die Gefahr der verdeckten Ausspähung anderer Menschen erkannten – vor allem deshalb, weil sämtliche Aufnahmen an die Google-Server übermittelt werden. Google ist durch die GPS-Erfassung grundsätzlich in der Lage, Bewegungsprofile der Benutzer zu erstellen sowie durch Gesichts- und Spracherkennungssoftware Personen gezielt ausfindig zu machen. Auch werden sämtliche Aufnahmen auf unbestimmte Zeit gespeichert. »Weder Orwell noch Hitchcock hätten sich in ihren schrecklichsten Dystopien Google Glass einfallen lassen können«, sagte der Journalist Andrew Keen von CNN, als er 2013 von dem ursprünglichen Plan erfuhr, wonach die Brille – ohne Zutun der Nutzerin – automatisch alle fünf Sekunden ein Bild knipst.40
Grundsätzlich sollte man sich bei der Markteinführung einer neuen Technologie als verantwortungsvoller Konsument die Frage stellen, ob überhaupt ein Bedarf für dieses Produkt besteht und wie sich das eigene Verhalten durch die Nutzung langfristig verändern könnte. Unsere Haltung sollte also eine prinzipiell kritische sein. Man stelle sich im Blick auf die Nutzung von Google Glass – mit besonderer Berücksichtigung der Beliebtheit von Datingportalen und den damit verwandten Applikationen für Smartphones – folgendes hypothetisches Szenario vor:
Sie sitzen in einem Café, trinken genüsslich eine heiße Schokolade und blättern in der Tageszeitung – nichts ahnend, dass Sie in diesem Moment von einem Benutzer der Google Glass »gescannt« werden. Dieser verfügt über eine Software, die ihm mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms Auskunft über den Beziehungsstatus der jeweils »ins Visier genommenen« Person gibt. Da die meisten, vor allem jüngeren Menschen in den Sozialen Medien ihren Beziehungsstatus offenlegen und für die Gesichtserkennung genügend Bildmaterial hochladen, dürfte einem schnellen Suchergebnis nichts im Weg stehen. Nach der Analyse werden Sie – und bei noch effizienterer Software gleich alle Personen – im Blickfeld schemenhaft mit Farben umrahmt. Die Farbe Grün könnte beispielsweise für »alleinstehend«, Gelb für »in einer Beziehung« und Rot für »verheiratet« stehen. Aus den Sozialen Netzwerken gewonnene Zusatzinformationen über hetero- bzw. homosexuelle Vorlieben, Hobbys oder den ausgeübten Beruf dürften Ihrem »Jäger« ausreichend Datenmaterial für eine anschließende Nutzenkalkulation zur Verfügung stellen: Nimmt er das Risiko einer Zurückweisung (und damit