Breiter bis wolkig. Bernd Neuschl

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Breiter bis wolkig - Bernd Neuschl Lindemanns

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Gehen.

      „Eine Kleinigkeit noch.“ Ein grell glänzendes Gebiss grinst mich an. „Die Bläser und Streicher haben keine Noten. Ist was schiefgelaufen. Hihihi. Sei so lieb und schreibe gut spielbare Stimmen. Auch für den Drummer. Sandy gibt dir die Klavierauszüge. Und jetzt: Husch, husch!“

      Klasse. Es ist eine Sache, vor einem Musicalorchester zu stehen und einfach mit den Armen im Takt zu wedeln. Aber in der kurzen Zeit auch noch ein ganzes Meer an Einzelstimmen schreiben, das macht nicht wirklich Spaß, zumal unfassbar vielseitige stilistische Vegetationen zu berücksichtigen sind.

      Sandy überreicht mir einen ansehnlichen Stapel Klaviernoten. Ich will schleunigst raus hier, aber sie ruft mir hinterher: „Halt, Ben. Du brauchst noch die Adresse für die Show. Bürgerhaus Stollwerck. Dreikönigenstraße 23. Soll ich dir das aufschreiben?“

      „Danke, aber DAS kann ich mir merken“, zwinkere ich zurück und bin froh, endlich das Büro verlassen zu können.

      Bis zur Probe in der Philharmonie habe ich jetzt genau einen Tag. Karneval ist gelaufen.

      Zuhause am Schreibtisch nehme ich mir die Klaviernoten vor. Der Stapel aus einem Londoner Verlagshaus ist durchweg handgeschrieben und unleserlich. In der vagen Hoffnung, mein sündhaft teures Notationsprogramm würde mir hilfreiche Dienste leisten können, scanne ich eine Seite testweise ein. Fehlanzeige. Mist. Hinzukommt, dass die Druckerpatrone leer ist. Also ist ehrliche Handarbeit angesagt. Der hochbegabte Wolfgang Amadeus Mozart soll die Ouvertüre zur Oper „Don Giovanni“ angeblich eine Nacht vor der Premiere geschrieben haben. Immerhin bleibt mir mit halbem Talent ein ganzer Tag.

      Ich blättere durch die Noten. Das Trompetensolo von „Aquarius“ kennt fast jeder Mensch. Und so ist es bei jedem Stück. Immer gibt es irgendwo ein Vorspiel oder einen Übergang mit instrumentalem Ohrwurmcharakter. Dazu noch die üppige Besetzung: Klavier, Keyboard, E-Bass, gleich zwei Gitarren, ein Schlagzeug, ein Pauker, zwei Schlagwerker mit einem ganzen Arsenal an perkussiven Effekten in ihren Schießbuden, sechs Holzbläser, fünf Blechbläser, eine Harfe und vier Streicher.

      Mogeln geht nicht. Als Erstes schreibe ich zu jedem der siebzehn Lieder einen satt orchestrierten Schlussakkord, der – je nach Stück – mal knackig kurz, mal episch ausladend ausfällt.

      Jetzt sind die Intros dran. Dann die Zwischenspiele. Läuft. Nach einem Tag bin ich tatsächlich fertig, aber zu kaputt, um in den unzähligen Einzelstimmen auch noch Taktzahlen, Pausenlängen und Wiederholungszeichen einzutragen. Wird schon schiefgehen.

      Es ist Rosenmontag und ich bin bereits um fünf Uhr früh aus den Federn raus, damit ich für den Schlagzeuger noch Noten aufschreibe. Um zehn Uhr überreiche ich ihm stolz seinen Stapel, dessen Empfang er vor der Bühne der Philharmonie mit den Worten quittiert „Ich brauche keine Noten, ich spiele alles auswendig.“

      Der Rest der Truppe ist dankbar für meine gut leserliche Handschrift, bemängelt aber das Fehlen von Taktziffern und Pausenlängen. „Einfach zu mir schauen, ich gebe alle Einsätze“, beruhige ich jeden Musikus einzeln. Dann betrete ich das Dirigentenpodest.

      Die Gesangssolisten sind der Hammer, das Orchester spielt routiniert, aber trotzdem neugierig. Und es klappt mit allen Einsätzen. Ich schwebe. Das wird der Knaller. Mit dem Ergebnis werde ich als zweiter Kapellmeister bestimmt flugs zum Musikdirektor ernannt.

      Jemand tippt mir auf die Schulter. Ein älterer, etwas grotesk wirkender Herr mit langen Haaren und grauem Stoppelbart starrt mich fischäugig an und blubbert mit schüchtern-nasaler Stimme: „Entschuldigen Sie die Störung, Maestro, aber ich habe in der Philharmonie heute Abend eine Show zu spielen. Meine Band würde jetzt ganz gerne einmal hier aufbauen.“

      „Klar doch, wir sind ohnehin fertig.“ Leicht irritiert wende ich mich meinem Ensemble zu. „Gut, sammeln Sie alle Noten ein. Ich bringe sie heute Abend wieder mit. Wir treffen uns um 18 Uhr im Bürgerhaus zum Soundcheck. Show ist um 21 Uhr“.

      Auf dem Weg in meine Garderobe frage ich meinen Pianisten, wer denn dieser ominöse alte Mann gewesen sei, der ausgerechnet am Rosenmontag hier in der Kölner Philharmonie eine Show spielen möchte.

      „Was, du kennst den nicht? Mensch Ben, das ist Helge. Helge Schneider. Seit Jahren gastiert er hier am Rosenmontag in der Philharmonie.“

      „Das ist nicht der Helge, das ist der Hammer“, antworte ich, mache flugs kehrt und laufe flink zurück in den Saal, weil ich unbedingt ein Selfie oder zumindest ein Autogramm von dem Meister aller Meister haben muss. Weil Helge aber bereits am Orgeltisch die Register einstellt, habe ich keine Chance, komme aber immerhin in den sakral tönenden Gratisgenuss blues-lastiger Variationen über sein berühmtes „Katzeklo“.

      Ich stecke den Taktstock in die Innentasche meines Sakkos und verlasse die Philharmonie. Schaue auf die Uhr. 14 Uhr. Ich habe vier Stunden bis zum Soundcheck. Was ich nicht weiß: Sämtliche eingesammelten Orchesternoten habe ich auf dem Dirigentenpult der Philharmonie liegen lassen.

      Um mich herum das reinste Irrenhaus. Abertausende alkoholisierte Jecken verwandeln die Kölner City in eine einzige Open-Air-Kneipe. Fantasievolle Kostüme, prunkvolle Uniformen, aber auch einfache Pappnasen bestimmen das Straßenbild. Fast an jeder Ecke der Seitenstraßen riecht es nach scharfem Urin oder frisch Erbrochenem. Nüchtern kannst du das niemals aushalten.

      Ich beschließe, mir nach dieser gelungenen Probe zumindest ein Kölsch als Belohnung zu gönnen.

      14:15 Uhr. In der erstbesten Kneipe schlagen mir reichlich Dunst und noch mehr Dezibel unbarmherzig ins Gesicht. Ich bin ein Zauberer: Aus einem Kölsch werden zwei. Lerne eine ausnehmend attraktive Dame kennen, die sich als Meerjungfrau verkleidet hat. Ihr Kleid ist kunstvoll zu einer stilisierten Schwimmflosse umgenäht worden und duftet sogar ein wenig nach Fisch. Wahnsinn. Ich trinke mit einem Vampir und zwei Schlümpfen auf Bluts- beziehungsweise Schlumpfbruderschaft. Eine Giraffe gesellt sich zu uns an die Tränke und erzählt einen Flachwitz nach dem andern.

      Man will wissen, als was ich mich eigentlich verkleidet habe.

      „Ich habe mich als Herbert von Karajan verkleidet“, brülle ich und bin von mir selbst begeistert. Ich zaubere den Taktstock aus meiner Innentasche und fechte damit in der Luft den Takt von „Was sollen wir trinken sieben Tage lang“ mit. Die schräge Herde blökt vor Begeisterung.

      Plötzlich betritt ein krachledern kostümierter Bayer die Bar.

      „Herrlich!“, brüllt die Giraffe, „jetzt kommt der alljährliche Auftritt von Herbfried Nudelhuber.“

      Herbfried Nudelhuber, so erklärt man mir, sei ein urkomischer Kabarettist, der jedes Jahr am Rosenmontag zünftige Witze in den Kölner Kneipen zelebriere. Quasi ein Fips Asmussen in Lederhosen. Schon dreht der Kneipenwirt die Musik aus und reicht dem beleibten Pointen-Sepp ein Mikrofon. Während der unvermeidlichen Rückkopplung bestellte ich

       mir ein weiteres Bier und lehne mich erwartungsvoll an den Tresen.

      Herbfried Nudelhuber ist bereits voll in seinem Element und feuert einen Gag nach dem anderen in die lachhungrigen Gesichter. Die Menge tobt.

      „Prost Neujahr, Köln! Was, das hier ist keine Silvesterparty, sondern Fasching? Oh, da bekomme ich Ärger, so lange war ich noch nie von zu Hause weg zum Feiern.

      Servus, mein Name ist Herbfried Nudelhuber, alle nennen mich aber Handbremse, weil ich immer so gut angezogen bin.

      Ich trage einen Bart, mein Bruder einen richtigen Vollbart, der kommt eher nach meiner Mutter.

      Meine

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