Bahnfahring. Thomas C. Breuer
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So schlingern die Passagiere mit weit geöffneten Herzen und in moderat mediterraner Stimmung zu ihren Liebsten, zu fernen Gestaden oder gar in neue Lebensentwürfe hinein. Ein Orientexpress in Schieflage, erfrischend für den, dessen Leben stets in geraden Bahnen verläuft. Die Strecke bietet lautmalerische Kleinode sonder Zahl wie Eutingen im Gäu, und während ich darüber sinniere, dass es schon fast an ein Wunder grenzt, dass so ein durch und durch eleganter Zug, immerhin hat ihn Giugiaro entworfen, durch eine so profane Ansiedlung wie Epfendorf perlt, wo übrigens eine Firma mit dem schönen Namen Ätztechnik Herz ihren Geschäften nachgeht, poetischer Höhepunkt des deutschen Streckenabschnitts, stellen sich die mitreisenden Italiener gegenseitig ihre neuesten Handytöne vor – mehr gibt das telefonino nicht her, einen durchgängig funktionierenden Netzzugang jedenfalls nicht auf dieser Strecke. Der CIS zieht ein Publikum an, das zu emotionalem Überschwang neigt und versorgt seine Gäste mit einer Dosis italianità, derer vor allen Dingen derjenige bedarf, der in Städten wie Rottweil den Zug wieder verlassen muss – der Winter dort oben auf sechshundert Metern und mehr kann kanadische Qualitäten entwickeln.
Die Bahn taugt eigentlich nicht für Aussteiger. Grenzenlose Freiheit verbindet sich kategorisch mit dem Auto, mehr noch dem Motorrad. Das hat mit der Dynamik zu tun: Auf der Straße liegt der Horizont vor einem, man bewegt sich sozusagen auf die Verheißung zu, im Gleisbett erscheint sie eher beiläufig seitlich im Fenster, erhabene Momente wollen sich dabei selten einstellen. Leider taugt die Bahn auch nicht für Einsteiger, denn natürlich fährt sie, wie sie will. Damit nimmt sie allerdings den Süden vorweg: Zum Teufel mit den Fahrplänen, irgendein Zug wird schon fahren. Sie führt sämtliche Fahrpläne ad absurdum und erteilt uns so eine Lektion in mediterraner Lockerheit. Wäre das nicht die verkehrte Sprache in diesem Zusammenhang, könnte man sagen: Mañana! Ich persönlich bin auf Züge angewiesen, denn: „Isch abe gar keine Auto, Signorina!“
Gut, es gibt Manki, gerne lässt sich der Markennamen CIS auch germanisch falsch aussprechen, wie, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. In ihrem Werbeprospekt sind sie sich nicht zu schade für den Satz „Wo die Zeit wie im Zuge vergeht ...“. Die italienischen Hersteller verfolgen dieselbe Politik anderer europäischer Zughersteller: Züge sollen Flugzeuge simulieren. Beim CIS gaukeln die Deckenverkleidungen dahinter verborgene Sauerstoffmasken vor. Gottlob bleibt der Zug am Boden; würde ein Flieger derart erbärmliche Töne von sich geben, wäre man beunruhigt. Den Cisalpino könnte man getrost als „Antonow“ unter den Eisenbahnen bezeichnen. Die Drucklufttüren niesen dazu, dffzäch-dffzäch, dafür können die Italiener nichts, denn die hat die Fa. IFE Door Systems in Waldhofen/Ybbs eingebaut, und die Ybbs fließt durch Niederösterreich. Die Sitze ächzen und stöhnen, über allem liegt dieser bedrohlich düsenartige Grundton, dazu das Knarzsurren der elektrisch betriebenen Sonnenblende, die alle drei Minuten derjenige betätigt, der den Fensterplatz inne hat und mit dem Ellenbogen so unausweichlich wie versehentlich an den Schalter gerät. Nein, der Zug hebt nicht ab, ist aber stärkeren Schwankungen unterworfen als jeder Aktienindex, und mit etwas Glück kann der Reisende sogar seekrank werden, ohne den entsprechenden Cruise-Zuschlag entrichten zu müssen, ein eiernder Klaustrophobie-Workshop, der nicht wenigen Übelkeit maritimen Zuschnitts verursacht.
Zum Glück sind alle Witze zum Thema Neigetechnik längst ausgereizt. Die Toiletten lösen bei zartbesaiteten Zeitgenossen spontane Verstopfung aus, was insofern gut ist, da sie meistens selbst verstopft sind. Praktisch immer. Ergo unwahrscheinlich, dass sich die Silbe CIS von „cistile“ ableitet: Blasenentzündung. Dafür die Wasserhähne: Sahel pur. Deshalb bleibt rätselhaft, warum sich der Boden wellt, als sei irgendwo eine verborgene Waschmaschine ausgelaufen. Die türkisenen Farbtöne verleihen dem Interieur etwas verwegen Poolhaftes. Vielleicht sollte man den Italienern das Zugbauen ebenso wenig überlassen wie den Holländern den Umgang mit Feuerwerkskörpern. Die Tische sind so hoch angesetzt resp. die Sitze so niedrig, dass einem der Laptop unter dem Kinn hängt; die Sitze ein ergonomisches Verbrechen, für Menschen jenseits der 1,85 m eine Quälerei.
Eine Conducteurin der SBB beliebte sich so auszudrücken: Am Anfang habe man ja noch gedacht, das seien alles Kinderkrankheiten, diese seien aber gleich in die Altersschwäche übergegangen. Das Bahnschweizerisch unterscheidet sich übrigens vehement vom Bahndeutsch, aus „Die Fahrausweise, bitte!“ wird „Alle Billette vorweisen“, und deutsche Orte werden anders betont: Rottweil. Rätselhaft auch, warum die Schweizer stets vom Zugsteam sprechen, die Deutschen haben das Binnen-S wohl wegrationalisiert. Es ist nicht so, dass die Deutschen keine Wunderlichkeiten zum Streckenverlauf beizutragen hätten, die häufige Eingleisigkeit beispielsweise, die den Franzosen zu verdanken ist, die das zweite Gleis nach dem Krieg rausgerupft haben, um damit vielleicht die Infrastruktur auf Madagaskar zu verbessern. Gut, die Strecke von Ulan-Ude nach Peking kommt auch mit einem Gleis aus. Selten, dass heutzutage Züge vom Kaliber ICE auf Gegenzüge warten müssen.
Im März 1998 hat man den Cisalpino mit einigem Pomp am Hauptbahnhof Zürich vorgestellt und geprahlt, man könne damit 17 Minuten eher in Stuttgart sein. In Stuttgart? 17 Minuten? Wow! Wozu? Das ist Dezennien her, ohnehin habe ich längst das Gefühl, wir seien schon ewig unterwegs, was man uns beiden durchaus ansieht. Wir haben uns erst zusammenraufen müssen, der Cisalpino und ich, die Leichtigkeit des Südens muss sich der Deutsche immer erst redlich erarbeiten. Hier kann ich, zum Teufel mit den technischen Mängeln, mitschiffs schon mal ein bisschen Weltläufigkeit üben. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, Ballast kann man trotzdem loswerden. Wer einen der Ausziehtische auszieht, sieht sich mit wundersamen Ansiedlungen von ... nun, Mikrobiologen würden sicher gleich die richtige Zuordnung finden.
Ach so, Landschaften gibt es ja auch noch, molto, Schwarzwald im Westen (rechts), die Schwäbische Alb im Osten (also links), das elegante Eintauchen ins Neckartal kurz vor Horb, der Viadukt von Rottweil, und wie als Kontrastprogramm das spröde Tuttlingen; rechter Hand entschädigt kurz darauf ein eiserner Friedhof mit rostigen Dampflokomotiven, dem Auge wird geschmeichelt auf dieser Route, nicht zuletzt vom Maggiwerk in Singen. In der Maggimetropole wird die Schweizer Lok vor den Zug gespannt. Machen Sie eine klassische Handbewegung: Helvetische Lokführer wischen stets die Haltestangen beim Verlassen der Führerkabine mit einem Tuch ab. Möglicherweise eine Höflichkeitsgeste dem nachfolgenden Kollegen gegenüber, vielleicht auch nur die schnöde Beseitigung von Fingerabdrücken. Welcome to Switzerland. Spätestens drei Kilometer nach Thayingen pflegt sich mein alter Freund Roaming zu melden.
In diesem Zug hört Schaffhausen auf den klangvollen Namen „Sciafusa“; der Rheinfall, der Viadukt bei Eglisau, die anheimelnde Agglo Zürich, unerschrocken kämpft sich der CIS durch das Urnerland, wo Schweizer Ingenieure, ich schwöre es, aus purem Übermut um die Kirche von Wassen drei Schleifen gelegt haben, die legendäre Triple-Volte. Warum machen sie das? Weil sie es können, Dummy! Schon blicken wir in den Schlund des feuerspeienden Drachen, den Gottardo. Die wenigsten werden wissen, dass es Zugvögel gibt, die ihren Gattungsnamen wörtlich nehmen und nicht mehr über den Gotthard fliegen, sondern in Göschenen auf Güterzügen Platz nehmen, um durch den Tunnel zu rauschen und auf der anderen Seite als Schwarzfahrer wieder rauszukommen. Kein Scherz. Sozialschmarotzer, die von Glück reden können, dass auf der anderen Seite nicht gleich Italien anfängt, denn dort würden sie stantepede in die Netze der Vogelesser fliegen.
Schon bei Airolo werden weitere Versprechungen des Südens eingelöst. Flugs noch einmal ordentlich Kaffeesahne in den Espresso gekippt, dann rücken auch schon die Grenzgeschwader an, die grauen Eminenzen und die uniformierten Finanzbeamten, und jetzt ist der echte Süden da, die Palmen, das Glitzern des Sees, das trutzige Gefängnis südlich von Como. Ich habe ihn richtig liebgewonnen im Laufe der Jahre, den Cisalpino, eine der letzten Herausforderungen der Zivilisation, der den perfektionsfixierten Preußen häufig vor Herausforderungen stellt, gerade vor ein paar Tagen nach dieser Durchsage in schönstem schweizerischen Zungenschlag: „Wegen technischer Problemen verliert der Zug etwas Zeit!“ Bene – mochte dieser Zug auch eine mobile Dauerstörung sein, einmal geriet im Zimmerberg-Basistunnel unweit Zürich ein Waggon in Brand, bedeutete er letztlich aber den charmant-schlampigen Gegenentwurf zum sterilen Reisen,