Bahnfahring. Thomas C. Breuer
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Gerne würde ich nun hinter das Geheimnis kommen, warum sich acht Gleise auf den Bahnhof Schifferstadt zu bewegen, während die 700.000 Einwohner zählende Stadt Valencia mit deren sechs auskommt? Allerdings bin ich mal von einer Lesung nach 23 Uhr in die Schalterhalle von Schifferstadt gekommen um festzustellen, dass selbige nachts als Café genützt wird. Die Bude war voller Karten spielender Menschen. Nightlife. Wenn in besagter Lokalität Männer das Raufen anfangen, dann kann es gut sein, dass hier einfach nur zwei Schifferstädter Ringerhelden trainieren, denn diese Gemeinde ist Kontaktsport durch und durch. So pflegt man hier Männerfreundschaften: ein wenig schwiemelig, ein wenig schwitzig, handfest und dennoch nicht anrüchig. Mittlerweile gibt es sogar ein Ringermuseum. Darüber hinaus kann Schifferstadt mit einer Pechhüttenstraße, einem geschlossenen Imbisswagen Hähnchen Grill und einem Restpostenlager inklusive Getränkeabholmarkt aufwarten. Was soll das überhaupt sein, ein Abholmarkt? Gibt es vielleicht Märkte, wo man seine Getränke hinbringen kann? Auf der anderen, schäbigeren Seite der Gleise, die man z.B. in Cincinnati „over the rhine“ nennen würde, wirbt eine Schrift für „ANDESPRODUKTE“. Falls es einmal eine Benefizveranstaltung zugunsten des fehlenden „L“ geben sollte – ich bin dabei!
Parallel zum Schienenstrang verläuft kurze Zeit die Autobahn, auf der sich ein Container westwärts schiebt, der auf einen LKW geschraubt wurde. Auf den Feldern bauen sie Spargel an und, das erwähne ich jetzt ungern, Kohl. Wir laufen in Haßloch ein. Hier müssen die Amüsierwütigen raus, ab zum Holidaypark. Die Werbung für die Kunsthalle Mannheim, die in diesem Zug überall aushängt, scheint mir verschwendet, da fehlt die Zielgruppe. Leichte Hungergefühle stellen sich ein. Wir zockeln durch einen Landstrich, in dem die Buchstabenkombination „www.“ unverwüstlich für „Weck, Wooscht und Woi“ steht. Häufiger sieht man jetzt Männer zusteigen in karierten Holzfällerhemden und Freaklederhosen, gerne in braun. Abgerundet werden diese beliebten Ensembles mit einer Schirmmütze, die ihre Träger als Mitglied der Taliban-Milizen des 1. FC Kaiserslautern ausweist. Was sonst noch gerne getragen wird: Jeansanzüge. Oder Tarnfarben. Irgendwo, verdammt, muss es hier doch auch Kleidung aus erster Hand zu kaufen geben.
Noch mehr Spargel. In Böbig hätte ich Anschluss nach Grünstadt, wenn mir danach wäre. Dazu fällt mir das Friedensspektakel ein, zu dem man mich am 18. September 1982 eingeladen hatte, weil die keine Ahnung hatten, was für ein unfriedlicher Zeitgenosse ich sein kann. Unter dem Hinweisschild „Friedensfestival“ wies ein weiterer Pfeil in dieselbe Richtung: „Zum Schießstand.“ Spargel ab, Auftritt Wein. Die Hänge des Pfälzer Waldes. Autofahrer haben es besser, die werden auf ihrem beschwerlichen Anstieg zum Pfälzer Wald mit dem Schriftzug „Sausenheimer Honigsack“ belohnt, wuchtige Lettern, die hollywoodgleich in einen Wingert gerammt wurden.
Das Schulzentrum Böbig speist den Zug mit ein paar Zöglingen. „In Kürze erreichen wir den Bahnhof Neustadt Weinstraße. Mit etwas Glück erreichen Sie dort noch ...“ Hat das der Schaffner gerade tatsächlich gesagt? Vielleicht schaut er gar nicht bekümmert drein, sondern ist ehrlich besorgt. Womöglich bildet die Bahn ihre Mitarbeiter neuerdings in Mitfühl-Schulungszentren aus. Das Glück mit dem Anschluss möchte ich jedermann gönnen und gelegentlich selbst mal erleben. Die Bahnhofsunterführung von Neustadt ist videoüberwacht, was beruhigend ist zu wissen, anscheinend werden immer wieder welche gestohlen.
„Hier noch ein Hinweis: Sollten Sie aussteigen ... am Bahnsteig ... Schließen Sie die Wagentüre! Besten Dank!“ Byebye, Zentralverriegelung – ob das der Grund ist für seine sorgenvolle Miene? Keine Zeit zur beinharten Recherche, jetzt geht es in den Busch. Eine Idylle, aber gleichzeitig ein enger Canyon, der Alptraum eines jeden Mobilfunkteilnehmers, ein „Tal der Ahnungslosen“. GIs aus den Appalachen dürften keine Mühe haben, sich heimisch zu fühlen. An jedem Bahnhof soll fortan eine Person leicht verloren herumstehen, frei nach Ringelnatzens „Warten auf Weiss-nicht-was“. Mit Hauenstein wird der erste Bahnhof ausgelassen. Sicher klagt die Gemeinde seit 28 Jahren erfolglos durch alle Instanzen. In Lambrecht habe ich einmal eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig zugebracht, nur weil ich in Neustadt in den Zug in die falsche Richtung gehechtet bin, aus dem ich erst in Lambrecht wieder raus kam. Da blieb mir ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, was es mit dem Kuckucksbähnel auf sich hat und ob das als Metapher für die chronisch klamme Deutsche Bahn AG zu verstehen ist, über der ständig die Gerichtsvollzieher kreisen. Häuschen wie aus dem Faller-Bausatz, aus der Zeit, als die Straßen nach verloren gegangenen Provinzen benannt wurden und die Welt, weil schwarz-weiß, noch in Ordnung war.
Mit Neidenfels endlich einmal ein Ort, der nach einer Untugend benannt wurde. 19 Fahrschüler, 2 Wanderer, eine Frau mit Einkaufstüten. Das typische 12:45 Uhr-Publikum. Auf einem Nebengleis ein gelber Hebekran, auf dessen Führerhaus jemand in gotischen Lettern „August der Starke“ geschrieben hat. Weidenthal wirbt mit zwei Bundeskegelbahnen, was irgendwie offiziell und großartig klingt, wie vom Bundesinnenminister persönlich gewartet. Die Berge drumherum sind aus rotem Sandstein gefertigt, der Rest ist grüne Wildnis. Zum Kontrast stellen die Pfälzerwäldler blaue Tonnen in ihre Gärten.
Die Luxemburgerin fümmt. Ihre Intensität erinnert mich an einen Brief, den ich in den späten Siebzigern aus dem Großherzogtum erhalten habe, auf dem ein Stempel prangte: »Alcohol un Tubak sinn Drogen. Drogen maachen futti!« Hoffentlich hält sie durch. Entlang der Strecke wird emsig gearbeitet. Frankenstein, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Der Bahnhof sieht arg gerupft aus, als hätte sich eben jener drüber hergemacht. Unschlüssig ruht er in der feuchten Enge des Tals, alles scheint sich in der Phase des Übergangs zu befinden; niemand scheint aber zu wissen, von wo nach wo. „Teenage Wasteland“ brüllt mir Roger Daltrey zufällig vom Kopfhörer aus ins Ohr und weiß gar nicht, wie Recht er damit hat. Natürlich gehorcht er der Zufallsdramaturgie der Titelreihung meiner Kassette. Ja, ganz recht, zu den Zeiten, als in Zügen geraucht werden durfte, hörte man noch Kassette. Ging auch. Dafür kam man ohne Klingeltöne aus. Den allseits bemängelten Geburtenrückgang in dieser Republik vermag ich übrigens auf diesem Trip nicht zu bestätigen, aber das kann an der Tageszeit liegen, die von den sog. Fahrschülern dominiert wird.
Zu Hochspeyer will mir auf Anhieb nichts einfallen und später noch weniger, außer dass auf dem Bahnsteig wieder einer rumsteht. Es wäre übertrieben, hier vom alpinen Gegenentwurf zu Speyer zu sprechen. Bolzplätze kündigen Kaiserslautern an. Links, gleich oberhalb des Firmengeländes von Schuster & Co., der Betzenberg, wo der Ministerpräsident jeden zweiten Samstag zum Fotoshooting erscheint. Ja, der Betze, umgehend denke ich an die Walz aus der Palz, beliebt vor allem in Albanien. Nach dem Sieg der albanischen Nationalmannschaft in Tirana gegen Russland haben viele Mütter ihren Sohn auf den Vornamen Briegel taufen lassen. „Die Pfalz ist ein einziger großer Fußball!“, hat Franz Beckenbauer schon 2003 erkannt. Irgendwann kommt die WM, derentwegen sie anscheinend die halbe Stadt abreißen, für Lauterer reine Dibbelschisserei: „Zu Gast bei Freunden!“ Keinem dürfte klar sein, dass diese Freunde rote Teufel sind. Rote Teufel, rote Socken, rote Zahlen. „Die Pfalz ist Kampf!“, betont der aktuelle FCK-Boss gerne. Der Betze ist die Hölle, und die Rasenheizung eine moderne Variante des Fegefeuers. Klar andererseits, dass ein solcher Anziehungspunkt unbedingt neuer Bahnsteige bedarf, obwohl von hier viele Bahnlinien abgehen, die sicher zeitnah stillgelegt werden, um den Fahrplan zu entflechten und Platz zu schaffen für neue Züge wie den schnittigen TransRegioPfalz, ganz in silber-metallic und gelber Beschriftung.
Schade, dass ich nicht nach Kusel muss. Was ich jedenfalls an den Pfälzern mag, ist ihre umschweifreduzierte Art: In Kaiserslautern habe ich mich dummerweise im Februar 1990 zu einem Auftritt anlässlich einer „alternativen“ Faschingsveranstaltung verpflichten lassen. Alternativ zum üblichen Besäufnis hatte man sich entschlossen, sich bewusst zu betrinken. Oder nachhaltig, aber dieses Wort war damals noch nicht en vogue. Ich rauf auf die Bühne, wollte mit etwas leicht Erfassbarem beginnen: „Die