Hopfenduft und Butterbrezel. Wolfram Fleischhauer

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Hopfenduft und Butterbrezel - Wolfram Fleischhauer Lindemanns

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Oder wir Erwachsene so viel ängstlicher? Immerhin – und das werde ich nie vergessen – wurde eine meiner Mitschülerinnen damals auf dem Schulweg totgefahren. Sie hieß Romei Stiefel. Ich kann mich noch gut an sie erinnern: Blond, mit einem fahrigen Blick aus blauen Augen und immer Resten von Schokoladenkeksen um den Mund.

      Ich verliebte mich auf Anhieb in meine Lehrerin. Sie hieß Frau Schärf und hatte lange, schwarze Haare. Ich wollte ihr gleich am zweiten Schultag Blumen schenken, was meine Mutter allerdings zu verhindern wusste.

      Ab der zweiten Klasse unterrichtete mich die strenge Frau Holler. Der Anklang an die Märchenfigur ist durchaus treffend. Sie steckte mich schon bald – wohl nicht ganz zu Unrecht – in die Kategorie Pechmarie (Spätentwickler, eher faul und ein wenig aufmüpfig). Meine Schulkarriere bis zur zehnten Klasse war ab da mehr oder weniger vorgezeichnet.

      Dass ich es auf das Gymnasium schaffte und bis zur zehnten Klasse durchhielt, verdanke ich vor allem dem Engagement meiner Eltern. Ausbildung hatte bei uns einen sehr hohen Stellenwert, was sicher auch daran lag, dass meine Eltern diesbezüglich kriegsbedingt kein großes Glück gehabt hatten. Meine Mutter stammte aus einer Künstlerfamilie mit stark bohèmehaften Zügen, mein Vater war der Sohn eines Berufssoldaten. Sowohl der Künstler als der Soldat sind ja eigentlich lebensuntüchtig, weshalb sie sich in die Illusion von der absoluten Freiheit oder die Schimäre einer absoluten Ordnung flüchten. Ich spüre diesen Widerspruch oft in mir, das Leichte, Oberflächliche, Künstlerische und das Starre, Sicherheitsorientierte, Perfektionistische. Manchmal muss ich lachen, wenn ich mir anschaue, was aus dieser Mischung geworden ist: ein EU-Beamter, der Romane schreibt.

      An meine Gymnasialzeit denke ich nicht gern zurück. Sicher lag es nicht nur an der Schule, dass ich mich so schwer tat, aber das Kant-Gymnasium, welches ich ab 1971 besuchte, hat schulpädagogisch sicher nicht Stadtgeschichte geschrieben. Wer dort mitkam, kam mit, wer nicht, musste eben sehen, wo er blieb. Mir wurde sehr rasch nahe gelegt, doch lieber auf die Realschule oder Hauptschule zu wechseln und so schnell wie möglich irgendeine Lehre zu machen. Mein Lateinlehrer schlug ernsthaft eine Fleischerlehre vor, da ich ja schon den Namen hatte. Mit Nachhilfe schaffte ich zwar immer wieder die Versetzung, aber in der Quarta resignierte ich und schlug nach einem Hagel von Vierern und Fünfern im ersten Schulhalbjahr selbst vor, eine Ehrenrunde zu drehen. Sogar in meinen Lieblingsfächern Deutsch und Englisch häuften sich die Misserfolge. Unter einem Aufsatz über ein Gewittererlebnis, bei dem ich mich sprachlich wirklich ins Zeug gelegt hatte, stand nur: Völlig unrealistisch. Vier minus.

      Sitzenbleiben war die schlimmste Erfahrung meiner Jugend. Die Trennung von der alten Klassengemeinschaft, in der ich mich sehr wohl gefühlt hatte, machte mir enorm zu schaffen. Nach Weihnachten plötzlich in eine mir völlig fremde Klasse zu gehen und die gewohnten Schulfreunde nicht mehr um mich zu haben, war entsetzlich. Ich fühlte mich frustriert und gedemütigt und sah wenig Veranlassung, meine Einstellung zur Schule oder mein Verhalten zu ändern. Ich verlor meine Freunde, ein Schuljahr, und meine Leistungen blieben gleich schlecht.

      Ausgleich von der verhassten Schule fand ich vor allem beim Sport und in Jugendorganisationen. Da war vor allem die Jungschar, eine Jugendgruppe der Lutherkirche, die von zwei jungen Männern namens Frank und Harald in den Kindergartenräumen in der Werthmannstraße geleitet wurde. Vor allem Frank hatte es mir damals angetan. Er sah aus wie Che Guevara, rauchte Gitanes oder Gauloises und hatte Antworten auf jedes Weltproblem, von Vietnam bis zu Martin Luther King. Wir sangen, spielten, diskutierten über Verhütung und ob es einen Gott gibt, fuhren ins Zeltlager, ich schrieb meine ersten Lieder zur Gitarre und natürlich gab es regelmäßig Steh-Blues-Partys, um Geist und Sinnlichkeit gleichermaßen zu entwickeln. Das war eine tolle Gemeinschaft, und mit Uschi, meiner ersten großen Liebe von damals (zwei Köpfe größer als ich, was aber nicht störte), habe ich heute noch Kontakt.

      Fast noch wichtiger als die Jungschar war der Sport. Ich war ein ganz guter Fußballspieler und nicht selten spielentscheidend als Kreisläufer in der Jugendhandballmannschaft des MTV. Zwar ist es uns nie gelungen, Beiertheim oder Rint-heim zu schlagen, aber wir schafften es doch mehrmals in die Nähe der Kreismeisterschaft. Dann wurde ich Rettungsschwimmer. Ich trat in die DLRG ein und trainierte mittwochs im Tulla- und freitags im Vierordtbad, bis ich den Rettungsschwimmerschein in der Tasche hatte. Damit war auch entschieden, wo ich künftig die Sommerferien verbringen würde: im Rheinstrandbad Rappenwört. Glücklicherweise bekam kein Badegast einen Herzinfarkt, während ich dort am Becken stand, die Wellenmaschine ein- und ausschalten durfte und mit DLRG-Kapuzenpulli und Trillerpfeife den Bademeister gab.

      Abends, wenn das Bad sich leerte, zogen wir DLRGler uns zunächst in das DLRG-Häuschen am Rhein zurück. Später setzten wir mit einem immer löchrigeren Ruderboot über einen Rheinseitenarm zu unserem Zeltlager am Rheinufer über. Zwei oder drei Sommer habe ich dort draußen verbracht, mit Lagerfeuer, Gitarrengesang, Jugendliebeleien und zahllosen Schnakenstichen.

      Ich war also ganz gut integriert. Und doch eckte ich bisweilen an, was an einem ganz merkwürdigen Umstand lag: Ich konnte einfach kein echtes Karlsruherisch sprechen. Meine Mutter stammt aus Kehl, mein Vater aus Kassel. Zwar sprachen wir alle mit süddeutscher, badischer Färbung. Aber der spezifische Tonfall und das spezielle karlsruherische Vokabular waren bei uns nicht in Gebrauch. Wir benutzten Plastiktüten und keine Gummiguck oder wie immer das heißt. Auch aßen wir Kartoffeln und keine Grumbiere. Sich einem Dialekt oder der vorherrschenden Umgangsprache zu verweigern, kann heikel sein. Manche Altersgenossen fühlten sich von meiner Art zu sprechen provoziert. Einmal brachte mir ein amüsiertes Kichern über die Ausdruckweise eines Mitfußballers sogar eine dicke Backe ein. Manche hielten mich für hochnäsig, was nicht der Fall war. Ich kam mir nicht als etwas Besseres vor. Aber anders fühlte ich mich schon. Meine Heimatsprache war mir einfach fremd.

      Ein Gutes hatte mein Sitzenbleiben gehabt: Meine neue Klassenlehrerin, Frau Kuhn, bewies nicht nur ein Gespür für meinen schulischen Kummer, sondern sie hatte auch eine Lösung parat: ein Jahr ins Ausland. Sie steckte mir eine Broschüre des American Field Service zu. Ein Jahr in Amerika zur Schule gehen! Ich war sofort Feuer und Flamme, bewarb mich und tat etwas, was ich bisher noch nie getan hatte: Ich strengte mich in der Schule an, denn Voraussetzung für das Auslandsjahr war nicht nur beim AFS angenommen zu werden, sondern die Versetzung in die elfte Klasse.

      Dieser Text soll von Karlsruhe handeln, deshalb kann ich das Jahr in den USA nur streifen. Aber ich frage mich oft, was aus mir geworden wäre, wenn ich diese Chance nicht bekommen hätte. Hätte ich überhaupt das Abitur geschafft? Hätte ich die Reife und das Selbstvertrauen gewonnen, um das Leben zu leben, in dem ich mich heute wiederfinde? Auf jeden Fall hätte es mehr schmerzhafte Umwege gegeben. Vielleicht kann ich es auf eine einfache Formel bringen: Ich bin in Karlsruhe aufgewachsen, aber erwachsen geworden bin ich in den USA. Und das gleich zweimal. Einmal als Austauschschüler 1978/79 und dann noch einmal während des Studiums, als mir ein zweites Amerikajahr, diesmal an einer Uni in Kalifornien, in einem ganz anderen Zusammenhang erneut sehr geholfen hat, meine Orientierung zu finden. Mein vorletzter Roman, „Der gestohlene Abend“, erzählt diese Geschichte, in die mehr autobiografische Details eingeflossen sind als in meine sonstigen Bücher.

      Mein Schuljahr an einer High School in Ohio wurde in Deutschland nicht anerkannt und so musste ich nach meiner Rückkehr noch drei weitere lange Jahre die Schulbank drücken. An das Kant-Gymnasium, die Stätte zahlloser Niederlagen und Frustrationen, wollte ich keinesfalls zurückkehren. In der Eile war nur das Wirtschaftsgymnasium bereit, mich aufzunehmen, und so verbrachte ich ein ziemlich merkwürdiges Schuljahr am Friedrich-Liszt-Gymnasium. Ich war plötzlich umringt von angehenden Bank- und Versicherungskaufmännern und -frauen, von zukünftigen Betriebswirten und Kaufleuten aller Art. Wie in Trance folgte ich diesen Kursen über VWL, Buchhaltung und Betriebswirtschaft. Meine Interessen hatten sich in den USA komplett auf Geisteswissenschaften und Sprachen verlagert, entsprechend verzweifelt war ich, als ich nach einem dreiviertel Jahr von Buchungssätzen („Vorsteuer an Kasse“) und Kontenrahmen die Nase gestrichen voll hatte, zugleich jedoch kein Rückweg an ein normales Gymnasium möglich schien. Rettung erschien in Gestalt von Frau Wegel, der damaligen Direktorin

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