Liebe auf den zweiten Blick. Doris Lott
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Der Günther war ein richtiger ‚Menschenfischer‘. Wenn er jemanden mochte, hat er ihn sich gleich einverleibt und wo Günther auftauchte, eroberte er die Herzen der Menschen. Meistens suchte er um jeden Preis den Kontakt mit den Künstlern und wollte unbedingt einen Blick hinter die Kulissen werfen.
„Das war ziemlich anstrengend für mich, auch schon vor vielen Jahren, als er zeitweise mit dem grauen Star zu kämpfen hatte. Ich musste ihn damals auf jede auch noch so kleine Unebenheit aufmerksam machen und reichte ihm den Arm. Später, nach einer nicht ganz erfolgreich verlaufenen Hüftgelenksoperation, musste er am Stock gehen. Da ging schon nicht mehr alles von alleine. Als der Stock nicht mehr ausreichte, ging Günther, der immer Schmerzen hatte, am Rollator und das ganz langsam. Darauf folgte der Rollstuhl, den er selbst praktisch nicht bewegen konnte, da er die Kraft nicht mehr dazu hatte. Ich schob ihn darin überall hin. Zu den Ärzten, auch in unseren heiß geliebten zoologischen Stadtgarten und natürlich ins Theater. Endlich konnte ich das Tempo wieder einmal bestimmen! Deshalb schaffte ich auch eine Klingel an, um die trödelnden Leute zu verscheuchen, die so einem Rollstuhl ja immer im Wege sind.
Als es schlimmer wurde mit der nachlassenden Gesundheit und ich am Rande meiner Kräfte war, begann der Marathon durch die Karlsruher Heime. Zunächst mehrmals auf der Suche nach einem Kurzzeitpflegeplatz. Und nach einem langen Krankenhausaufenthalt ging es nicht mehr zu Hause. Zunächst im ‚Haus Karlsruher Weg‘ und dann, nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt, im ‚Friedensheim‘, wurde er liebevoll aufgenommen. Das war auch nicht leicht. Jeden Abend besuchte ich ihn dort. Am Wochenende holte ich ihn zum Kaffeetrinken und Abendessen nach Hause. Und wenn die anderen Heimbewohner für die Nacht fertig gemacht wurden, dann fuhr ich mit Günther ins Theater. Von der Stadt gab es zum Glück freie Taxifahrten. Für die vielen Transporte vom ‚Karlsruher Weg‘ ins Theater waren uns Herr Ayanoglu und seine Mitarbeiter eine sehr zuverlässige und vertrauensvolle Hilfe. Um dem Heimpersonal etwas behilflich sein zu können, lernte ich, Günther vom Rollstuhl ins Bett zu bringen.“
Der etwas zurückhaltende, zwanzig Jahre jüngere Georg, der nicht so gerne im Mittelpunkt stand und dem es peinlich war, wenn sein Freund, als er noch gesund war, im Theater mit erhobenem Haupt und selbstbewusst einen der Plätze in den vorderen Reihen einnahm, lernte für seinen Freund zu kämpfen.
„Der Günther stand gern im Mittelpunkt. Damals, als er im Theater immer nach vorn ging, ließ ich mich auch mitziehen. Eines Tages gab’s dann mal einen Brief vom Verwaltungsdirektor, der uns darüber aufklärte, dass nur die gekauften Plätze eingenommen werden dürfen und diese über die ganze Vorstellung beizubehalten seien. Mir war das furchtbar peinlich. Aber der Günther hat den Brief einfach zerrissen! Ihm war es ganz egal, was andere über ihn dachten, er war total unkonventionell. Heute ist das ja anders im Theater, denn wenn’s mal ganz schlecht verkauft ist, wird man sogar aufgefordert nach vorne zu gehen. Ja, so war der Günther.
Es gibt da eine Anekdote aus seiner Zeit als Lehrer im schwäbischen Aichhalden im Schwarzwald. Als er an einem Sonntagmorgen die Fenster in seiner Wohnung putzte, fragte ihn eine Frau: ‚Ganget se net in d’Kerch?‘ Und der Günther antwortete selbstbewusst und provozierend: ‚Nein, ich gehe ins Theater, da werden ähnliche Bedürfnisse befriedigt!‘
Ich erinnere mich noch, wie er schon ziemlich krank war und im Rollstuhl saß. Christa Ludwig kam nach Karlsruhe zur Opernklasse. Sie war sehr direkt mit ihrer Meinung und nicht einfach im Umgang, eine Diva halt. Dann wollte er anschließend zum Empfang, der eigentlich nur für geladene Gäste gedacht war. Ein Glück, dass Peter Spuhler uns das ermöglichte. Dort unterhielt er sich großartig und plauderte ungeniert mit der Sängerin über die alten Zeiten an der Wiener Staatsoper, an der er ja auch hospitiert hat. Theater, das war unsere Leidenschaft und Günther hielt sich für den Mittelpunkt der Welt. Er hatte einen Wunsch, und ich versuchte ihn zu erfüllen. Und als er unbedingt bei den Salzburger Festspielen dabei sein wollte, aber nicht mehr so gut laufen konnte, da habe ich mir ein Klappfahrrad gekauft. In Salzburg fuhr er dann mit dem Rad und ich rannte nebenher. Das war ein Bild für Götter und meiner Figur tat das gut! Dafür gab’s am Abend für mich eine ‚Mehlspeis‘ extra! Wir fielen auf, wie der sprichwörtliche ‚Rossbollen auf der Autobahn‘, aber was taten wir nicht alles für die Musik. Ich habe mir doch auch schon als 14-Jähriger an Weihnachten die Concerti Grossi von Händel gekauft. Das gefiel mir, aber damals auch Schlager und die Operettenmusik aus der Musiktruhe meiner Eltern. Wir lebten in Offenburg, fuhren mit dem Bus ins Karlsruher Theater und ich schmolz dahin, als Anton de Ridder ‚Komm in die Gondel mein Liebchen ...‘ sang.
Später hat sich mein Geschmack geändert. Die Richarde haben es mir angetan! Zunächst lernte ich den Wagner zu schätzen. Meine große Liebe wurde aber Richard Strauss. Aus seinem Werk und damit verbundenen Zahlen schöpfe ich sogar die Kombinationen für die vielen Passwörter, die man heute braucht. Dann kam natürlich Mozart dazu und mit Günther die Italiener und überhaupt alle anderen.
Ich denke zurück an die Zeit vor sechs Jahren, als sich Günther einen Oberschenkelhals-Bruch zuzog und seine Leidenszeit begann. Ich habe meinen Freund gepflegt in unserer Wohnung mit den über fünfhundert Teddybären und der riesigen Platten- und CD-Sammlung. Wir waren ja beide ,Jäger und Sammler‘, die jedes Programmheft seit Beginn unserer Theaterbesuche aufgehoben habem. Als Günther sich nicht mehr selbstständig zu Hause mit Essen und Trinken versorgen konnte, kam Freund Hans-Peter vom Theater zu Hilfe und unterstützte uns mit fast täglichen Besuchen zur Mittagszeit. Das war für Günther eine schöne Abwechslung und er konnte übers Theater und die Kultur mit Hans-Peter fachsimpeln. Zusammen mit Günthers Schwester Gerlinde waren die beiden eine große Hilfe für mich und später im Heim ein willkommener Besuch für Günther. Ein paarmal kam sogar eine kleine Sängerinnen-Abordnung aus dem Theater, um zu sehen wie’s dem Günther geht.
Als Günther gestorben war, haben wir uns mit einer bewegenden Trauerfeier von ihm verabschiedet. Viele Freunde haben mitgewirkt. Die musikalische Gestaltung übernahmen Daniel Kaiser an der Orgel und die Mezzosopranistin Christina Niessen vom Badischen Staatstheater. Und viele von vor und hinter der Bühne waren dabei.“
Pfarrer Manfred Wiedemer, der mit Georg und Günther befreundet war, beeindruckte alle mit seiner Trauerrede, die mit den Worten „True love“ endete. Er berichtete von der Liebe und Fürsorge, mit der der Freund auch in den letzten Jahren der schweren Krankheit seinen Lebensgefährten begleitete.
„Georg hat die Theaterbesuche im Rollstuhl und den anschließenden Besuch in der Theaterkantine noch bis kurz vor seinem Tod ermöglicht. So konnte Günther ganz im Augenblick und im inneren Frieden leben.“
Georg fehlt Günther.
„Ich halt‘s zu Hause nicht aus, ich bin immer auf der Flucht! Als Günther im Heim war, kamen wir uns auf neue Weise wieder näher und es war mit die schönste, innigste Zeit, die wir miteinander hatten. Die Beziehung vertiefte sich wieder, denn auch bei uns gab es in den einunddreißig Jahren unserer Partnerschaft Höhen und Tiefen, viele ,graue Jahre‘ und auch das ‚verflixte 7. Jahr‘ ...
‚Aber der Richtige, wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt‘, wie die Arabella von Strauss singt, ‚der wird einmal dastehen, da vor mir und wird mich anschauen und ich ihn ...‘
Der erste Mann, in meinem Leben, war’s auf jeden Fall nicht. Schon nach einem halben Jahr ging’s unter Tränen wieder auseinander, denn er war nicht der Richtige.
Kurze Zeit später erschien Günther. Ich habe ihn immer mal wieder in einer Theater-Clique getroffen. Dies und jenes hat man über ihn erzählt. Auf dem Karlsruher Theaterfest 84/85 hat es dann langsam begonnen mit uns. Er war ja nicht so ganz mein Traumprinz mit seinen über 20 Jahren mehr und der ‚Dächle-Frisur‘ (das schüttere Haupthaar wurde kunstvoll mit Hilfe von Unmengen Haarspray zu einem ‚Dächle‘ zementiert). Aber seine Stärke, seine Redegewandtheit und seine Kennerschaft auf allen erdenklichen