Geschichten aus Baden und dem Elsass. Anton Ottmann
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In der folgenden Nacht fuhren sie durch Berlin. Alle drängten sich an die offenen Türen. Links und rechts im Mondlicht sahen sie eine gespenstische menschenleere Ruinenlandschaft. Wie konnte man hier überleben?
Vorerst endgültiger Halt war in Kevelaer nahe der holländischen Grenze, letzte Chance für eine Flucht. Aber ohne Papiere traute er sich wieder nicht. Er blieb lieber bei der Gruppe, bei der er sich relativ sicher fühlte.
Nach drei Tagen ging es endlich weiter, über Holland und Belgien nach Valenciennes. Die erste französische Stadt, alle jubelten. Der Bahnsteig war schwarz von Menschen. Unbekannte Frauen fielen ihnen um den Hals. Helferinnen vom Roten Kreuz verteilten halbe Baguettes, Wurst und Wein. Die meisten der Ankömmlinge weinten. Endlich zu Hause!
Eine Stunde später ging es weiter. In der Nacht fuhren sie in den Gare de l’Est in Paris ein. Wieder Trauben von Menschen. Viele wollten wissen, woher sie kämen, fragten nach Angehörigen, Männern, Söhnen. Da kamen französische Soldaten in adretten sauberen Uniformen und verschlossenen Mienen und übernahmen sie. Vor dem Bahnhof ließ man sie antreten, dann wurden sie auf Busse verteilt. Sie fuhren durch das dunkle und menschenleere Paris, ab und zu kam ihnen ein Militärlastwagen entgegen. Wieder ein Lager, mitten im Grünen, eingezäunt und bewacht. Sie bekamen Suppe, mussten dann auf dem Boden schlafen, Ausgehverbot. Was kam da auf sie zu? Rudolf konnte den ungebrochenen Optimismus seiner Kameraden nicht teilen.
Am nächsten Morgen saß er vor einem müde aussehenden Zivilisten, daneben ein Offizier der Militärpolizei und eine Frau in Uniform. „Ihr Name“, wurde er sachlich und unpersönlich gefragt. Dem Beamten war anzusehen, dass er die Prozedur langsam satt hatte.
„Rudolf Holzwarth.“
„Dienstgrad?“
„Obergefreiter.“
„Geburtsdatum und Ort?“
„Zwanzigster Juli 1922 in Neu-Breisach.“
„Wann wurden Sie eingezogen?“
„Am ersten Februar 1943.“
„Wo sind Ihre Papiere?“
„Die haben mir die Russen abgenommen.“
„Waren Sie in der NSDAP?“
„Nein.“
„Waren Ihre Eltern in der NSDAP?“
„Mein Vater arbeitete bei der Bahn. Da musste er in die Partei eintreten.“
Die Frau lächelte bitter. „Ja, ja, die Elsässer, keiner war Nazi, alle im Widerstand.“
So ging es noch eine ganze Weile weiter. Dass er nicht gut französisch sprach, störte niemanden. Er war mittlerweile schweißgebadet. Plötzlich hielt er es nicht mehr aus. „Ich bin kein Elsässer“, platzte er heraus. „Ich bin aus Alt-Breisach, die Russen haben mich versehentlich freigelassen.“
Der Zivilist, vor dem Krieg Geschichtslehrer, hatte die ganze Zeit in seinen Akten geblättert. Er schaute plötzlich interessiert hoch. „Das war gar nicht so falsch. Die Russen kennen sich aus in der Geschichte. Breisach ist eine alte elsässische Stadt.“
„Ich meine Alt-Breisach.“
„Ich auch. Wissen Sie nicht, dass Ludwig XIV. dort von seinem berühmten Baumeister Vauban eine Festung bauen ließ?“
„Was machen wir jetzt mit ihm? Zeigen Sie mal Ihren Entlassschein!“, unterbrach der Offizier. „Soweit ich verstehe, wurde er von den Russen als Kriegsgefangener entlassen und nach dem Alliiertenabkommen kann er von uns nur wieder festgesetzt werden, wenn er wegen eines Kriegsverbrechens angeklagt wird.“
„In der Liste steht er auf jeden Fall nicht“, mischte sich die Frau ein. „Ich glaube, er ist in Ordnung.“
Der Offizier stand auf: „Hier haben Sie einen Entlassschein nach Frankreich. Gehen Sie damit zur Zahlstelle und lassen sich Geld und eine Fahrkarte geben. Sie sind frei.“ Rudolf stand auf und reichte ihm die Hand. „Danke.“ Die anderen nickten, „der nächste.“
Nachdem er sich beim Roten Kreuz frische Kleidung besorgt hatte, nahm Rudolf mit einigen Kameraden, die den gleichen Weg hatten, den nächsten Zug nach Straßburg.
Am achten Oktober 1945 betrat Rudolf mit klopfendem Herzen die Behelfsbrücke vom französischen Neuf-Brisach zum deutschen Alt-Breisach. Die Wachposten schauten gelangweilt auf den Fluss und unterhielten sich, ihre Gewehre hatten sie lässig umgehängt.
An der Zollbaracke zeigte Rudolf seinen Entlassschein.
„Ausweis“, wurde er aufgefordert.
„Habe ich nicht. Der ging verloren.“
Der Beamte ging zu seinem Kollegen und zeigte ihm den Schein.
„In welchem Lager waren Sie?“
Da blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. „Ich war Gefangener in Russland und bin mit dem Transport von Tambow nach Paris gekommen. Dort wurde ich von den Franzosen entlassen.“
„Ah. Sie kamen mit den Elsässern, die de Gaulle aus Russland geholt hat?“
Er nickte.
„Aber Sie sind kein Elsässer“, stellte der Offizier fest, „das hört man an Ihrem Dialekt. Sie sind Deutscher.“ Da musste er die Militärverwaltung in Colmar einschalten, das konnte er nicht entscheiden.
Nachdem er mehrmals weiterverbunden wurde, landete er schließlich beim zuständigen Oberst. Robert hörte ihn mehrmals „oui, mon colonel“ sagen, wobei sein Gesicht eine immer rötere Farbe annahm. Schließlich legte er den Telefonhörer langsam und vorsichtig auf. Er rückte seine Krawatte zurecht. „Ich habe den Herrn Oberst beim Mittagessen gestört“, berichtete er seinem Kollegen. „Er schrie mich an, es sei eine Frechheit, ihn wegen so einer Lappalie anzurufen. ‚Warum der Gefangene eine Freilassung hat, geht Sie einen Dreck an’, genau so hat er es gesagt.“ Er gab Rudolf den Entlassschein zurück und nickte ohne ein weiteres Wort der Erklärung in Richtung Deutschland.
Erst als Rudolf auf der anderen Seite der Brücke war, drehte er sich noch einmal um. Er konnte gerade noch das Bürogebäude erkennen, sonst nichts. Erleichtert schaute er den Soldaten auf der deutschen Seite entgegen. Da fiel ihm fast das Herz in die Hose, es waren wieder Franzosen. Sie wiesen ihn in ein Büro, das genau so aussah wie auf der anderen Seite. Hinter der Abtrennung stand allerdings ein Deutscher in Zivil. Robert hielt ihm den Entlassschein entgegen. Der warf einen kurzen Blick darauf und lächelte. „Herzlich willkommen in der Heimat. Es sind noch nicht viele entlassene Kriegsgefangene hier durchgekommen. Kommen Sie gut nach Hause.“
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