Chimära mensura?. Группа авторов

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wissenschaftlichen Sackgasse zu führen. Die Betrachtung von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Beziehungen könnte Forschungslücken füllen, neue Erkenntnisgewinne erzielen und vermeintliche Fakten und Interpretationen der historischen Wirklichkeit der DDR neu bewerten“. 37

      Enrico Heitzer, Mitherausgeber dieses Bandes, kamen die vorgeblichen Befunde „Schultes“ hingegen merkwürdig vor, seit er von ihnen erfahren hatte. Darüber hinaus irritierte ihn, dass die vermeintliche Doktorandin an keiner deutschen Universität bekannt war. Über die Workshop-Veranstalter*innen nahm er schließlich Kontakt mit der web.de-Adresse der ominösen Nachwuchswissenschaftlerin auf, wurde aber auf die vorgesehene Publikation in der Zeitschrift „Totalitarismus und Demokratie“ vertröstet. Seine Reaktion auf den Text, den er für den ernst gemeinten Beitrag einer unerfahrenen Forscherin hielt, die sich in den Totalitarismus- und Unrechtsstaatsdebatten zur DDR verirrt hatte, teilte er verschiedenen Kollegen in einer Mail mit: Darin beschreibt er, dass er sich „beim ersten Lesen an einigen besonders absurden Stellen vor Lachen gebogen“ und den Text stellenweise als „Persiflage auf einen geschichtswissenschaftlichen Aufsatz“ empfunden hatte. Besonders die für die Argumentation zentrale Kontinuitätsbehauptung zwischen dem Einsatz von identischen bzw. direkt voneinander abstammenden Wachhunden in NS-Konzentrationslagern, in sowjetischen Speziallagern und bei den DDR-Grenztruppen konnte er nicht nachvollziehen, hätte sie doch selbst mit den von „Schulte“ gefälschten Quellenangaben in der entsprechenden Fußnote auf einer empirisch ziemlich dünnen Grund gestanden. Ohne die angeführten Quellen grundsätzlich in Frage zu stellen, kam Heitzer zu dem Schluss: „Schaut man sich dann aber mit einem zweiten Blick die zentralen Passagen genauer an, kommt man schnell dahinter, dass die Autorin letztlich ziemlich unredlich agiert, um ihre zentrale These zu untermauern“. Die weitreichenden Schlussfolgerungen des Aufsatzes über den Hundeeinsatz an der deutsch-deutschen Grenze bewertete er als von bisherigen Untersuchungen völlig unbeeindruckte Spekulationen.38 Als nächsten Schritt bot „Schulte“ ihre „Forschungen“ der Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie zur Veröffentlichung an. Folgt man den Angaben der anonymen Satiregruppe „Christiane Schulte & Freund_innen“, nahm die von dem stellvertretenden Institutsdirektor Uwe Backes geleitete Redaktion der Hauszeitschrift des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) in Dresden den Beitragsvorschlag aber innerhalb „weniger Tage“ mit einer überschaubaren Anzahl von Änderungswünschen zur Publikation an.39

      Er sei ein „Riesenrhinozeros“, das jetzt an der Leine durch die Manege geführt werde, soll Backes gesagt haben, als er von einem Journalisten auf den liebevoll gefälschten Aufsatz angesprochen wurde, der über seinen Schreibtisch – den Text haben Kollegen und auch der Institutsdirektor ebenfalls gekannt40 – schließlich den Weg in die Hauszeitschrift gefunden hatte.41

      Dem war vorausgegangen, dass im Februar 2016 „Christiane Schulte“ in einem digitalen Bekennerschreiben den gesamten Vorgang offen legte.42 Unmittelbar darauf folgte Peters.43 Trotzdem zwei von acht Vorträgen auf einer Tagung satirische Fälschungen waren, versuchte in der Folge die HAS-Community stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen. Der Chimaira Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Chimaira AK), der das unmittelbare Opfer des Hoaxes geworden war, reagierte mit der trotzigen Behauptung, der Beitrag sei keinesfalls als eleganter Unsinn erkennbar gewesen, schließlich sei „[w]eiterhin […] bisher weder bewiesen noch widerlegt, dass Wachhunde aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht von KZ-Hunden abstammten“.44 Die Redaktion von „Totalitarimus und Demokratie“ verschickte eine Stellungnahme, in der sie sich für die Veröffentlichung entschuldigte. Der Redaktion habe „sich die Verfasserin u.a. mit einem ausführlichen Tagungsbericht der renommierten Internetplattform ‚H-Soz-Kult‘ empfohlen. […] [T]rotz eines intensiven Lektorats [sei] die Täuschungsabsicht nicht erkannt und die nötige wissenschaftliche Sorgfaltspflicht vernachlässigt“ worden. Das „liberale Grundverständnis der Zeitschrift [sei] missbraucht und für eine angebliche Wissenschaftskritik instrumentalisiert“ worden.45 Allerdings gingen der Verlag und das Institut ansonsten weniger souverän mit dem Hoax um. Der Beitrag wurde kommentarlos aus der eLibrary des Vandenhoeck & Ruprecht-Verlages gelöscht, das im Internet verfügbare Inhaltsverzeichnis sowohl auf der Seite des Verlages als auch auf der des HAIT stillschweigend um den Schäferhund-Text bereinigt. Im Jahresbericht des Instituts wird die Angelegenheit ebenfalls nicht benannt46, geschweige denn, dass eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem Hoax stattfindet.

      Der „deutsch-deutsche Schäferhund“ geisterte also seit dem Frühjahr 2016 durch Online-Medien und die deutsche Presse. Während die Wissenschaftsparodie von Alan Sokal vor 20 Jahren wie auch der jüngste Science-Hoax von Peter Boghossian zum „konzeptionellen Penis als sozialem Konstrukt“47 ausführliche Debatten nach sich zogen, hat der Hunde-Hoax, innerhalb der Geschichts- und Geisteswissenschaften bislang zu wenig Resonanz gefunden. Das ist erstaunlich, fordert die frei erfundene Studie Historiker*innen und andere Geisteswissenschaftler*innen doch gleich in mehrfacher Hinsicht heraus. Nach zahlreichen Gesprächen der Herausgeber mit Beteiligten und Interessierten gelangten wir zu der Ansicht, dass zu diesem Hoax noch lange nicht alles gesagt ist, dass er vielleicht nur einen Aspekt innerhalb eines übergreifenden Problemhorizontes abbildet und dass ihm eine virulente Bedeutung im Hinblick auf die gegenwärtige akademische Praxis zukommt: Auf dem Prüfstand stehen nicht nur wissenschaftlichen Qualitätsstandards und kritische Urteilskraft, sondern auch das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu ideologisierten Deutungen der Vergangenheit sowie die innerfachliche Debattenkultur. Die Herausgeber haben sich anlässlich des Hoaxes durch unzählige Seiten des jungen Forschungsfeldes gelesen. Sie haben viel gelernt, interessante Forschungsfragen und neue Perspektiven wahrgenommen, aber auch etliche mindestens halbgare Dinge gelesen und solche, die tatsächlich wie eine Wissenschaftsparodie wirken. Zudem beschlossen die Herausgeber, einen Workshop zu organisieren, der am 28. Oktober 2016 an der TU Berlin stattfand.48 Dazu mochte oder konnte keine/r der etwa zwei Dutzend angefragten HAS-Vertreter*innen erscheinen. Wenige versicherten glaubhaft, dass es tatsächlich terminlich nicht klappte, doch die meisten beantworteten nicht einmal unsere Anfrage.49 Dies verwundert insofern, als immer wieder herausgestellt wird, welch innovativen und für eine zeitgenössische Gesellschaft unverzichtbaren Leitideen die HAS repräsentierten. Wäre dem so, und sie hätten diese immense Innovations- und Anziehungskraft, stellt sich die Frage, warum niemand kam, um für seine wissenschaftlichen Positionen einzustehen und zu werben. Umso erfreulicher ist, dass Markus Kurth vom gehoaxten Chimaira AK sich bereit zeigte, einen Beitrag für dieses Buch beizusteuern. Zudem erhielten wir die freundliche Erlaubnis, nicht nur Interviews von „Christiane Schulte“ und dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, sondern auch von Aiyana Rosen, Helen Keller und dem genannten Markus Kurth vom Chimaira AK mit sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung abzudrucken.

      Wenn diese Publikation manchen Lesern also insgesamt etwas „einseitig“ vorkommen mag, so liegt das nicht in der Absicht der Herausgeber, sondern vor allem an dieser Konstellation. Natürlich hatten wir Organisatoren auch Forscher*innen aus zahlreichen anderen Disziplinen angesprochen und eingeladen: aus den Geschichtswissenschaften, Politologie, Literaturwissenschaft, Biologie, Ethnologie, Soziologie und Wissenschaftssoziologie, Metropolitan Studies und Philosophie. Denn schließlich wollten wir kein Tribunal inszenieren oder gar Häme zeigen, sondern den Raum für eine offene und kontroverse Debatte öffnen. Es trafen dann 40 Menschen jeglichen Geschlechts zusammen und diskutierten angeregt auf drei Panels – meist im Fishbowl-Format – auf einem interessanten Workshop, der von einer anregenden Podiumsdiskussion abgeschlossen wurde.

      Fokus und Aufhänger des Hoaxes sind die erwähnten HAS. Auch wenn jüngst der Versuch des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho, den Bereich Animal Studies an der Berliner Humboldt-Universität zu etablieren, zurückgewiesen wurde50, gibt es inzwischen zwei thematisch zugeschnittene Professuren in Deutschland und ein erstes Textbook für Lehrende und Studierende im UTB-Verlag.51 Die HAS, die zu einem Feld gehören, das sich mitunter selbst als „more-than-human social sciences“ bezeichnet52, scheinen sich – so der Eindruck der Herausgeber – zu etwas wie dem Katzencontent der jüngeren, postmodern und kulturalistisch erweiterten Geistes-, Gesellschafts-

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