Reformierte Theologie weltweit. Группа авторов
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Im Reden über Neuschöpfung wird unterstrichen, dass erst in der Nähe des Gekreuzigten offenbar wird, was Schöpfung ist. Noordmans nennt die Worte Jesu am Kreuz «Schöpfungsworte». Sie reden von einer Welt, die ex nihilo geschaffen wird. Ein Mörder wird eingeladen ins Paradies. Theologisch ist hier gesagt, dass der erste Satz des Glaubensbekenntnisses, nämlich: «Ich glaube an Gott dem Schöpfer», vom zweiten her ausgelegt werden muss. Mit dieser Umstellung stellt sich Noordmans gegen ein unfruchtbares Ursprungsdenken und gegen eine ungebrochene Schöpfungstheologie, wie er sie im Neocalvinismus von Abraham Kuyper antraf. Diese Umstellung ist laut Noordmans aufgenommen in einer trinitarischen Bewegung: «Die Evangelien verkündigen uns ein neues trinitarisches Werk, und von Golgotha her sehen wir die Schöpfung besser als vom Paradies her.» (VW 2, 412)
Wenn man sehen will, was geschieht, wenn ein Theologe mit einem Schöpfungsbegriff arbeitet, der seine Bedeutung vom Kreuz her bekommt, dann muss man Noordmans᾿ Meditationen lesen (VW 8). Dort sieht man den Begriff «wirken». Sein Schöpfungsbegriff (lies: seine Neuinterpretation des altkirchlichen Dogmas) ermöglicht Noordmans eine neue Perspektive auf den Text der Bibel. Noordmans liest diese Texte auf die Zukunft hin. Er zeigt das Schöpferische im Text. Als Beispiel sei hier hingewiesen auf eine Meditation zu Gen 12,1 mit dem Titel «Der fahrende Ritter». Der fahrende Ritter ist Abraham, dessen Profil hier gezeichnet wird im Vergleich mit Don Quichotte aus Cervantes’ Roman (vgl. meine Bemerkungen oben in 4.3). Noordmans unterstreicht Abrahams Umherstreifen und seine Grosszügigkeit gegenüber seinem Neffen Lot. Wir hören: |66|
«Abrahams Leben richtet sich vollständig auf das andere Land, das Gott ihm zeigen wird. Eigentlich lesen wir von ihm keine Lebensgeschichte. Es ist vielmehr eine Geschichte seines Glaubens. Als Lebensgeschichte kannst du mit einer Kugel hindurchschiessen. Ganz anders als bei seinem Enkel Jakob. Wir kennen Abrahams Leben nur als ein Skelett. Er tut nichts anderes, als sich zu trennen. Sich trennen von seinem Vater, von seinem Neffen Lot (Gen 13,9), von Hagar (Gen 21). Was sind das für leere Räume, die dazwischen entstehen? Wie soll man sie nennen? […] Abraham hatte seinen Frieden damit. Er war sich der Dynamik dieser leeren Räume in seinem Leben bewusst. Er wusste, dass Gott leere Räume braucht, um schaffen zu können, und dass es sich mit dem Glauben genauso verhält. Darin fand er den Mut, sich immer wieder zu trennen. Abraham wird der Vater der Gläubigen genannt. ‹Der Glaube aber ist die Grundlegung dessen, was man erhofft, der Beweis für Dinge, die man nicht sieht› (Hebr 11,1). […] Abraham blieb in der Leere, d. h. im Glauben […].» (VW 8, 183f.)25
Die erzählte Geschichte weist uns nicht zurück in eine Urzeit, sondern nach vorn zum Leser in der eigenen Zeit. Die Geschichte erzählt von einer Möglichkeit des Menschseins, einem Menschsein, das durch Treue bestimmt ist. So setzt die Geschichte den Leser auf die Spur dessen, was gut ist und Zukunft hat.
Auch diese Meditation ist Traditionsbildung. Man spürt hier Noordmans᾿ Liebe zur Romantik. Diese äussert sich in der Aufmerksamkeit für die Partikularität. Man findet das vor allem in Noordmans᾿ Hinweisen auf konkrete Ereignisse in der erwähnten Genesisgeschichte: den (nicht angenommenen) Schuhriemen (Gen 14,23); das Nichtgebundensein eines Menschen an Zeit und Raum. Aber Noordmans bleibt nicht im Romantischen stecken. Inmitten dieser Konkretheit steht die Entdeckung, was Glauben ist: Leben in der Leere, offen für die Stimme, die spricht. Diese Leere ist von Gott. Und damit steht sie der nihilistischen und existentialistischen Leere entgegen, in der der Leser sich befindet. Es ist eine Erzählung |67| darüber, wie das neue Menschsein zustande kommt, und damit sagt sie noch einmal etwas Wichtiges zum Thema reformierte Identität.
Fazit: Mit seinem pneumatologischen Ansatz hat Noordmans einen wichtigen Beitrag zum Durchdenken des Themas «Reformierte Identität» geliefert. Wie erwähnt ist in seinem theologischen Denken die Anthropologie in der Pneumatologie aufgenommen. Reformierte Identität heisst: dynamische, geistgewirkte Identität. Sie entsteht in der Glaubensentscheidung, mitten im Leben – die aktive Seite. Sie zeigt die schöpferische Wirkung des Gotteswortes im Leben des Menschen und der Welt – die passive Seite. Der pneumatologische Ansatz besagt, dass der Mensch viel mehr ist als eine (aristotelisch/cartesianisch verstandene) Selbstreferentialität, weil er im Kraftfeld des Geistes existiert, Christus anhaftend: königlich, prophetisch, priesterlich. Reformierte Identität heisst beteiligt sein an der Neuschöpfung, der Umsetzung aller Dinge – der Geburt von Gottes Welt.
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«Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland»1
Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988)*
Hans-Georg Ulrichs
1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformiertentums in globalen Kontexten
Nur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1988 erhält Wilhelm Niesel zu seinem 85. Geburtstag einen offiziellen Geburtstagsgruss der deutschen Reformierten durch den damaligen Moderator des Reformierten Bundes, Hans-Joachim Kraus: Niesel «hat uns bewusst gemacht, was ‹reformiert› heisst: Das Wort, das Wort und nichts als das Wort!»2 Dieser Gruss spiegelt möglicherweise mehr das Selbstverständnis des Geehrten wider als die Wertschätzung, die ihm gewiss auch zukam – und natürlich haben sich die Reformierten auch unter Niesels Führung mit zahlreichen anderen Dingen |72| beschäftigt als mit dem «Wort» allein. Auf jeden Fall lässt dieser Geburtstagsgruss ahnen, dass Niesel bereits zu Lebzeiten über Jahrzehnte hin als die Personifizierung des reformierten Protestantismus in Deutschland galt und in der Retrospektive als der einflussreichste Repräsentant dieser Konfession zu identifizieren ist. Durch sein ökumenisches Engagement auf globaler Ebene und seine bald führende Mitarbeit im Reformierten Weltbund (RWB), die von seiner Präsidentenzeit 1964–1970 gekrönt wurde, wurde diese Einschätzung auch weltweit geteilt. Kaum jemand galt in der reformierten Weltfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als so reformiert wie Wilhelm Niesel. Bezeichnenderwiese schrieb etwa nach Niesels Ehrenpromotion 1954 der Dekan der theologischen Fakultät Aberdeen an Niesel, er sei in Schottland willkommen, «weil Sie die reformierten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren».3 Und so wurde aus dem «Eisernen Wilhelm», wie er respektvoll in Deutschland genannt wurde, der «Welt-Wilhelm».4
Niesel ist eine bemerkenswerte Figur innerhalb der neueren reformierten Kirchengeschichte, deren Weg zu kennen für die Beurteilung dieses zur Rede stehenden protestantischen Formats erhellend ist.
Niesel verdiente sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten und die persönliche Nähe zu Karl Barth seine theologischen Sporen kurz vor dem und im «Dritten Reich» und sammelte kirchenpolitische Erfahrungen – freilich bis hin zu lang anhaltenden «Traumatisierungen» – während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Führend tätig und damit auch konfessionspolitisch prägend wurde Niesel trotz seines relativ jungen Alters gleich nach 1945, also in einer «durch einen eisernen |73| Vorhang getrennten Welt»5, die er – gerade wohl auch als geborener Berliner – schmerzhaft wahrnahm. Die totalitären Diktaturen und dann die in Ost und West zerrissene Welt liessen in ihm die Gewissheit wachsen, dass die Menschen