Reformierte Theologie weltweit. Группа авторов
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Die bereits genannten Arbeitsgebiete überschritt Niesel durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und im Reformierten Weltbund. Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes die Welt bereiste. Diese Jahre waren freilich aber auch schon der Beginn einer Entfremdung vom zeitgenössischen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung hatte 1964 noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen Kirchenkämpfer zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes gewählt, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der Bekennenden Kirche und die reformierte Tradition hinzuweisen. Doch in den 1960er Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im Reformierten Weltbund immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen.36
Als Niesel Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber alle Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag lassen doch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil anachronistisch geworden waren. Es |81| kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine Kirchenkampf-Erinnerungen37 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten. Einigermassen unzeitgemäss erscheint dann auch Niesels «theologisches Testament», eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel «Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre».38 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig «progressive» Positionen, aber dem Buch haftet ein repristinierender Ton an, indem immer wieder auf Schrift und Bekenntnis rekurriert, nein: gepocht wird. – Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 in Königsstein im Taunus gestorben und im reformierten Dörflein Schöller nahe Wuppertal beerdigt worden.
3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmuster
Konfessionelle Selbstbestimmung diente bei Niesel vor allem der Frage nach dem, was denn Kirche sei. Dass Niesel später so vehement für die Abendmahlsübereinkünfte von Arnoldshain und Leuenberg und für die EKD als Kirchengemeinschaft – und nicht etwa nur als ein mehr oder minder losen Bund von Landeskirchen – eintrat, findet seinen Grund nicht zuletzt in den im Kirchenkampf erkämpften Positionen. Es ging gerade nicht um konfessionelle Quisquilien, sondern um die Existenz und das Sein der Kirche. Bereits in der ersten gewichtigen Äusserung der Reformierten im Frühjahr 1933 markieren die Düsseldorfer Thesen mit einem Zitat der Berner Thesen von 1528 die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzungen: «Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren, in demselben bleibt sie und hört nicht die Stimme eines Fremden.»39 Die bekenntniskirchlichen Reformierten |82| verweigern sich einem konfessionell-strategischen Denken nach Machtanteilen innerhalb einer organisatorisch neu zu ordnenden Kirche. Sie wollen nicht Anpassung, sondern Reformation, gehen deshalb auch nicht nur auf die veränderten gesellschaftlich-politischen Verhältnisse ein, sondern greifen in ihren Argumentationen weiter in die Geschichte des Protestantismus zurück.
In einem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Bekenntnissynode im Januar 1934 in Barmen40 stellt Niesel fest, dass es einfach mit einem Bekenntnispostulat in der gegenwärtigen Lage nicht getan sei; andere Trennungen hätten sich aufgetan, reformatorisch-bibeltreue Kirche versus Neuprotestantismus oder deutschchristliche Häresie. Deshalb gälte: «Die Namen lutherisch und reformiert sind heute [1934] zu Vokabeln geworden, die nichts sagen, wenn sie nicht erläutert werden.»41 In den Unionskirchen gab es ja bereits ein Miteinander von lutherisch, reformiert und uniert bekennenden Gemeinden. Und da sich über die Konfessionsgrenzen hinweg ein neues, unter Umständen sogar gemeinsames Bekennen abzuzeichnen begann, ging es um die «Kernfrage»: «Ist unsere Kirche, der wir angehören, Kirche, oder ist sie es nicht? Dürfen wir in ihr die Kirche Jesu Christi glauben oder nicht?»42
Besonders innerhalb der Bekennenden Kirche wurde um ein gemeinsames Bekennen gerungen, war es doch beispielsweise bis dahin noch nicht möglich, während der Barmer Bekenntnissynode gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Es entstanden etwa die beiden Schriften «Was heisst lutherisch?» von Hermann Sasse (München 1934, 21936) und «Was heisst reformiert?» von Wilhelm Niesel (München 1934), und weitergehend hat man sich innerhalb der Bekennenden Kirche auch um eine Klärung |83| des Abendmahlsverständnisses bemüht, vor allem durch Helmut Gollwitzers grosse Studie43 und die «Abendmahlssynode» in Halle 1937.44
In seiner Schrift «Was heisst reformiert?» traktiert Niesel dann auch kaum die konfessionelle Frage, sondern klärt zahlreiche grundsätzliche ekklesiologische Fragen und schreibt die oben markierten Positionen «im heutigen Kampfe um die Kirche»45 fort. «Reformiert» im Sinne von «erneuert» bezieht sich stets auf die Kirche, nicht auf eine Konfession. Deshalb fragt Niesel nach der «Regel und Richtschnur für die Erneuerung der Kirche»: Reformiert bedeute genaugenommen «nach Gottes Wort reformiert». Daraus folge die unbedingte Anerkenntnis des Wortes Gottes, «wie es uns in der Heiligen Schrift gesagt wird»46. Dabei, so Niesel, «wird […] deutlich, dass es sich beim Schriftwort letztlich um Christus handelt»47. Auch das Alte Testament soll ganz christologisch gelesen werden, da es sich in beiden Testamenten um den einen Bundesgott handelt.48 In dieser Schrift wendet sich Niesel deshalb auch nicht gegen andere Konfessionen, argumentiert nicht konfessionell-polemisch49, sondern attackiert |84| mit scharfen Worten alle Theologie und Kirchenpolitik, die nicht steil allein bei der Offenbarung ansetzt:
«Wer die Konfession als Gestalt versteht, die […] entstanden ist und sich dann in der Geschichte ausbreitet, der weiss nicht, dass Konfessio immer das Bekenntnis der einen Kirche zu ihrem Herrn ist.»50
Konfessionell bedeutet bei Niesel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, bekennend zu sein, das heisst den Herrn der Kirche in dieser Welt bekennend, nicht jedoch ein kirchenpolitisches Agieren für die Stärkung der eigenen Konfession im Sinne von Denomination. Gewiss trifft die Charakterisierung Niesels zu: «Geist und Wirklichkeit des reformierten Bekenntnisses prägen ihn [sc. Niesel].»51 Aber ein Konfessionalist war Niesel keineswegs: «Obschon Niesel seine reformierte Herkunft nie verleugnet hat, stehen konfessionelle Rechtfertigungen während des Kirchenkampfes nicht im Vordergrund seines Interesses.»52
In Niesels Vorträgen und Schriften des Kirchenkampfes stösst man – abgesehen von den Zitaten und Anspielungen auf Johannes Calvin, den Heidelberger Katechismus und wenigen «reformierten Vätern» wie etwa Paul Geyser – auf die Entscheidungen der Bekenntnissynoden. Besonders rekurriert Niesel aber auf Barths Werk, so etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – auf die dreifache Gestalt des Wortes Gottes aus Kirchlichen Dogmatik I/1 (§4).53 Und ganz offenkundig schliesst sich Niesel auch bei der Frage der konfessionellen Selbstbestimmung den Überlegungen Barths an, die dieser, der Shootingstar am reformierten Theologenhimmel, bereits ein Jahrzehnt zuvor geäussert hatte und damit die etablierten Reformierten einigermassen brüskiert haben dürfte.
Zum einen ist dies Barths erster grosser Auftritt vor den deutschen Reformierten während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. In diesem fulminanten Vortrag erklärt der junge Professor seinen vermutlich erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössische |85| Antworten auf die Frage nach «reformierter Lehre» unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort «des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art». Zu fordern sei aber gerade mit den «Vätern» die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.54 Auch Niesel kritisierte «ein romantisches Reformiertentum […], das sich in der Kultivierung mancher Formen gefällt»55 und betont: nach Gottes