Superhelden. Grant Morrison

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Superhelden - Grant Morrison

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Lesern mit einem actionreichen Standbild entgegen. Siegel warf traditionellere Einstiege über Bord und schnitt direkt in der eröffnenden Panele zur Action, um so konventionelle Erzählweisen auf originelle Weise umzuarrangieren. Der Text verrät uns: „EINE RASTLOSE GESTALT EILT DURCH DIE NACHT, SEKUNDEN ZÄHLEN … VERZÖGERUNG HIESSE, EIN UNSCHULDIGES LEBEN ZU RISKIEREN.“ Diese Zeilen begleiten eine Illustration von Joe Shuster, die zeigt, wie Superman durch die Luft springt und eine gefesselte und geknebelte Frau unterm Arm hält. Das Bild strahlt so viel Kraft wie der Held selbst aus.

      Ab der zweiten Panele haben wir das Anwesen des Gouverneurs erreicht. Superman sprintet bereits über den Rasen und wendet sich dabei an das verschnürte Mädchen im Bildvordergrund, das er bei einem Baum abgelegt hat: „BERUHIGE DICH! ICH KANN MICH JETZT NICHT UM DICH KÜMMERN.“ Wir wissen nicht, wer sie ist, obwohl Supermans grobes Verhalten auf eine üble Person hindeutet – außer, wie das Cover nicht abgeneigt ist zu unterstellen, der Protagonist ist ein Bösewicht.

      Durch die Erzählweise werden wir von Supermans Geschwindigkeit mitgerissen und gezwungen, uns auf das Notwendigste in jeder Szene zu konzentrieren. Die einzige Lösung ist, sich an sein wehendes rotes Cape zu heften, immer einen Schritt hinter ihm.

      Als der Butler des Gouverneurs dem muskelbepackten Fremden im hautengen Kostüm die Türe nicht öffnen will, zertrümmert dieser sie einfach, hastet die Treppen hoch, wobei er den lautstark protestierenden Adlatus über seinen Kopf hält. Dann reißt er eine Stahltür aus ihren Angeln und erreicht einen schockierten und sichtlich um seine Sicherheit besorgten Beamten. Der Butler hat sich inzwischen so weit gesammelt, dass er eine Waffe auf den Eindringling richten kann: „LEGEN SIE DAS SPIELZEUG NIEDER“, warnt ihn Superman. Der Butler drückt ab, muss aber feststellen, dass der muskulöse Held immun gegen Patronen ist, welche harmlos von seiner Brust abprallen.

      Allein diese Ouvertüre dürfte die 10 Cent aus der Tasche eines nach Fantasie lechzenden Lesers zur Zeit der Weltwirtschaftskrise wert gewesen sein. Doch Siegel und Shuster waren noch nicht fertig. Sie hatten noch einen Trumpf im Ärmel. Gerade, als wir glauben, dieses unfassbare Konzept durchschaut zu haben, nachdem wir die Kraft und die Hingabe dieses Mannes aus Stahl bestaunen durften, werden wir mit Clark Kent konfrontiert, dem Mann hinter dem „S“ – einem Mann mit einem Job, einem Boss und mit Frauenproblemen. Clark, der Nerd, der arme Tropf, diese Brillenschlange, die nur ein Schatten des vor Selbstvertrauen strotzenden Supermans ist. Die Jungs waren auf eine Goldader gestoßen.

      Herkules war stets Herkules. Agamemnon und Perseus waren Helden ab dem Zeitpunkt, da sie aus ihren Betten stiegen, und blieben es auch bis zum Ende eines schlachtenreichen Tages. Superman aber war heimlich jemand anderer. Clark war die Seele, das transzendente Element in der Superman-Gleichung. Mit Clark hatte Siegel dem Leser eine Identifikationsfigur geschenkt: unverstanden, ausgenutzt und respektlos behandelt – trotz seiner offensichtlichen Fähigkeiten als Zeitungsmacher beim Daily Planet. Wie auch Siegel und Shuster schon hatten erleben müssen, bevorzugten manche Frauen heroische Krieger gegenüber hageren Männern, die hübsche Bilder zeichneten. Aber Clark Kent war mehr als die ultimative Nerd-Fantasie. Jeder konnte sich mit ihm identifizieren. Wir haben uns alle schon ungeschickt und missverstanden gefühlt – ein oder zwei Mal vielleicht, eventuell sogar öfter. Beinahe jeder vermutet bei sich die Existenz eines innewohnenden Supermans, eines engelgleichen Wesens, eine idealisierte Version unserer selbst. Etwas von Clark steckt in uns allen.

      Die Seite 3 stellte uns den Reporter Kent auf seinem Weg zur Arbeit vor, wo ihn ein anonymer Hinweis auf die Spur eines angeblichen Gewalttäters bringt, jedoch ist es Superman, der letztlich auf der Szene erscheint. Er findet den Rüpel, wie er seine Frau mit einem Gürtel bedroht. Er schleudert den Übeltäter gegen die Wand, wobei der Verputz aufbricht, und ruft ihm zu: „HÖR AUF, DEINE FRAU ZU SCHLAGEN!“ Worauf der Fiesling ohnmächtig wird, was Superman erlaubt, sich wieder in Kent zu verwandeln, bevor die Polizei eintrifft.

      Es fehlte immer noch ein entscheidender Baustein im Profil von Superman. Auf Seite 5 trat die Schlüsselfigur einer aufreibenden Ménage à trois, welche das Publikum jahrzehntelang faszinieren würde, in einer seltsam schmucklosen Panele erstmals in Erscheinung. Zurück in der Redaktion stellt uns Kent die kühle, abweisende Lois Lane, seine Rivalin um die besten Schlagzeilen, vor: „WAS HÄLTST DU VON EINEM … ÄH, DATE HEUTE ABEND, LOIS?“ Ihre ersten Worte sollten sie für Jahrzehnte definieren: „ICH GLAUBE, ZUR ABWECHSLUNG SOLLTE ICH MAL JA SAGEN.“ Beim folgenden Rendezvous schafft Kent ein halbes, windschiefes Tänzchen mit seiner Flamme, doch werden sie sogleich von Butch Matson, einem Gorilla von einem Gangster, belästigt. Clark weiß sich nicht zu helfen, doch die resolute Lois verpasst Matson eine und rät ihm, sich zu verziehen. Bevor ihr Taxi losfährt, lässt sie noch den sanftmütigen Kent ihre vernichtende Verachtung spüren: „DU HAST MICH GEFRAGT, WARUM ICH DIR AUS DEM WEG GEHE. NUN, WEIL DU EIN RÜCKGRATLOSER, UNERTRÄGLICHER ANGSTHASE BIST.“

      Angesichts der Tatsache, dass Clark ein Top-Kriminalreporter bei einer angesehenen Zeitung ist und ein schickes Apartement bewohnt, ist es nur schwer vorstellbar, dass Lois so wenig von ihm hält. Andersherum ist es leicht, sie zu verstehen, wenn man bedenkt, wie Kent eine Ausrede nach der anderen sucht, um seine wahre Identität zu verbergen. Clark klagt über Übelkeit oder Schnupfen, wenn seine sensiblen Ohren einen Polizeialarm auffangen und Superman benötigt wird. Seine Rechtfertigung für seine Ausflüchte ist, dass dunkle Unterweltbosse sich durch Gräueltaten an seinen Lieben bei ihm revanchieren könnten, wenn er sein wahres Ich preisgeben würde. Er hatte eine umfassende Tarnung erschaffen, eine Person, die das totale Gegenteil zu Superman darstellte, um ihm einen Hauch normales Leben zu erlauben.

      Am Ende der ersten Superman-Story, dreizehn Seiten nach ihrer furiosen Einführungsszene, hatte unser Held nicht weniger als fünf Gesetzesbrecher zur Strecke gebracht und sich auch noch nebenbei der Korruption im US Senat angenommen. Jedes neu enthüllte Detail machte sowohl die individuelle Figur als auch das Konzept an sich noch spannender. Es war eine Genre-Innovation ungeahnten Ausmaßes. Er gab der Welt ihren ersten Superhelden. Dreizehn Seiten Unglück für die Feinde der Unterdrückten!

      Das Konzept des Superhelden fand umgehend Anklang in der Öffentlichkeit. Der Superman-Fanclub hatte bald hunderttausende Mitglieder, wie eine Art freundlich gesinnter Hitlerjugend oder eine Bewegung von Science-Fiction-Pfadfindern. 1941 war er der Star von Action Comics. Superman bekam bald seine nach ihm benannte Publikation und trat auch in World’s Finest Comics und All Star Comics auf. Gleichzeitig gelang ihm der Sprung in andere Medien, was ihm dabei half, seinen Ruhm zu verbreiten, und den Grundstein für eine lange Karriere auch abseits der Comics legte. Superman arbeitete sich ins Bewusstsein der ganzen Nation, ja, der ganzen Welt. Er war im Radio, fand sich auf Comic-Seiten in Tageszeitungen, auf Marken zum Sammeln, auf Grußkarten, in Malbüchern, auf Kaugummipackungen und Kriegsanleihen.

      Frühe Comics benützten Vierfarbdruck, bei dem Rot, Gelb, Blau und Schwarz kombiniert wurden, um das Farbspektrum zu kreieren. Superman war – wie könnte es anders sein – der Erste, der diese neue Technik voll für sich zu nutzen wusste. Wir werden diese fundamentalen Bausteine des Comic-Universums später noch genauer unter die Lupe nehmen, aber im Moment reicht es, wenn man weiß, dass dieser Prozess dem Superhelden eine strahlende Erscheinung gab. Das gab es noch nie zuvor, und nun war es für jedermann erhältlich. Für die an die Schwarzweißbilder der Kinofilme, Fotos, Zeitungen und Schundheftchen gewöhnten Leser mussten die Comics wie ein Halluzinogen gewirkt haben. Dass Siegel und Shuster sogar eine feine Prise Naturalismus aus Filmen und Wochenschauen in ihre Comics einflochten, machte den verführerischen Surrealismus des Superhelden nur noch faszinierender. Sie waren Volkskunst für ein rastloses neues Jahrhundert.

      Shusters und Siegels innovativer Stil des rasanten Schnitts brachte eine neue Geschwindigkeit und Lebendigkeit in die Kunstform. Damit ist gemeint, dass der Raum, der zwischen einem noblen Landsitz und einem urbanen Häuserblock lag, auf den weißen Strich zwischen den Panelen reduziert wurde. Eine meilenweite Entfernung – im Nu durch einen Sprung Supermans überwunden. Dem Helden über die Panelen zu folgen, hieß, eine Verschiebung der Grenzen des Möglichen zu erleben, sowohl in Bezug auf menschliche

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