Gesammelte Werke. Aristoteles
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Als ein Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten. Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hieran Freude hat, ist mäßig, wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos. Und wer Gefahren besteht und sich dessen freut oder wenigstens keine Unlust darüber empfindet, ist mutig, wer aber darüber Unlust empfindet, ist feig. Denn die sittliche Tugend hat es mit der Lust und der Unlust zu tun38. Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der Unlust wegen unterlassen wir das Gute. Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung39.
Die Tugenden bewegen sich ferner um das Tun und Leiden. Da aber mit allem, was man tut und leidet, Lust und Unlust verbunden ist, so wird die Tugend sich um Lust und Unlust bewegen.
Dies zeigen auch die Strafen an, die darin bestehen, daß Genußbringendes entzogen und Schmerzliches angetan wird. Sie sind gleichsam ein Heilverfahren; die Heilung eines Übels aber pflegt von seinem Gegenteil auszugehen.
Ferner bewegt sich, wie wir vorhin sagten, jeder Habitus bei seiner Betätigung von Natur aus in dem und um das, wodurch er geeignet ist, verschlechtert oder verbessert zu werden. Nun wird er aber verschlechtert durch Lust und Unlust, wenn er bei beiden sucht und flieht, was er nicht soll, oder wann er nicht soll, oder wie er nicht soll, oder wie sonst noch derartiges im Begriffe unterschieden wird. Daher bestimmt man wohl auch die Tugend als eine gewisse Unempfindlichkeit und Ruhe, jedoch mit Unrecht, weil man Unempfindlichkeit schlechthin fordert, statt zu sagen, wie man unempfindlich sein muß und wie nicht, und wann, und was sonst noch hieher gehört. Als Voraussetzung gelte also, daß eine derartige Tugend40 überall da, wo es sich um Lust und Unlust handelt, das Beste vollbringt, wie die Schlechtigkeit das Gegenteil.
Eben dies kann uns auch noch durch folgendes klar werden. Da drei Dinge Gegenstand des freien Strebens und drei Gegenstand des Fliehens sind: das sittlich Gute, das Nützliche und das Angenehme oder Lusterregende, und deren Gegenteil: das Böse, das Schädliche und das Unangenehme oder Unlusterregende, so gilt zwar für alles dieses, daß der Tugendhafte darin das Rechte trifft und der Schlechte es verfehlt, am meisten aber gilt es für die Lust. Denn sie ist allen Sinnenwesen gemeinsam und mit (1105a) allem, was unter die menschliche Wahl fällt, verbunden, Auch das sittlich Gute und das Nützliche erscheint ja als lustbringend.
Ferner ist die Lust mit uns allen von Kindesbeinen an verwachsen, daher es schwer hält, dieses durch das Leben in uns festgewurzelte Gefühl abzustreifen.
Auch machen wir, die einen mehr die anderen weniger, Lust und Unlust zur Richtschnur unserer Handlungen. Diese beiden Gefühle sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet.
Endlich ist es, wie Heraklit41 sagt, noch schwerer, die Lust zu bekämpfen als den Zorn. Um das Schwerere aber bemüht sich allezeit wie die Kunst so die Tugend, und durch dieses wird das Gute zum Besseren. Und so dreht sich auch aus diesem Grunde das ganze Geschäft der Tugend und der Staatskunst um Lust und Unlust. Wer sich hier gut verhält, ist gut, und wer sich schlecht verhält, ist schlecht.
So hätten wir denn dargelegt, daß die Tugend es mit Lust und Unlust zu tun hat, daß sie an den Ursachen ihrer Entstehung auch die ihres Wachstums und, wenn sich an ihnen etwas ändert, auch ihres Untergangs besitzt; endlich, daß sie in denselben Dingen, woraus sie entsteht, sich tätig erweist.
Drittes Kapitel.
Man könnte jedoch fragen, wie wir sagen dürfen, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit gerecht und durch Handlungen der Mäßigkeit mäßig werden müsse, da man doch, um sich gerecht und mäßig zu verhalten, schon gerecht und mäßig sein müsse, grade wie man, um Grammatik und Musik zu üben, schon ein Grammatiker und Musiker sein muß.
Aber dieses ist ja nicht einmal bei den Künsten richtig. Man kann doch auch durch Zufall, oder wenn ein anderer einem vorspricht, so reden, wie die Sprachlehre es vorschreibt. So wird man denn erst dann ein Sprachkundiger sein, wenn man nicht blos redet wie die Grammatik vorschreibt, sondern auch, weil sie es so vorschreibt, was beides dann der Fall sein wird, wenn man gemäß selbsteigener Kenntnis der Grammatik redet.
Überdies ist es auch mit den Künsten nicht in gleicher Weise wie mit den Tugenden bestellt. Die Erzeugnisse der Künste haben ihre Güte in sich selbst, so daß es genügt, wenn man sie so hervorbringt, daß sie eine bestimmte Beschaffenheit haben. Eine dem sittlichen Bereiche angehörende Handlung aber ist nicht schon dann eine Handlung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit, wenn sie selbst eine bestimmte Beschaffenheit hat, sondern erst dann, wenn auch der Handelnde bei der Handlung gewisse Bedingungen erfüllt, wenn er erstens wissentlich, wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf die sittliche Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne (1105b) Schwanken handelt. Für die Künste zählen diese Bedingungen nicht mit, da es bei ihnen nur auf das Wissen und Können ankommt. Für die Tugend aber bedeutet das Wissen wenig oder nichts, das andere dagegen, was nur durch fortgesetzte Übung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit erworben wird, bedeutet nicht wenig, sondern alles. Die Werke werden mithin als Werke der Gerechtigkeit und Mäßigkeit bezeichnet, wenn sie solche sind, wie sie der Gerechte und Mäßige verrichtet. Dagegen ist gerecht und mäßig, nicht wer sie verrichtet, sondern wer sie so verrichtet, wie es der Gerechte und der Mäßige tun.
Es ist also richtig gesprochen, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit ein gerechter und durch Handlungen der Mäßigkeit ein mäßiger Mann wird. Niemand aber, der sie nicht verrichtet, ist auch nur auf den Wege, tugendhaft zu werden. Aber der große Haufe gibt sich damit nicht ab, sondern man glaubt schon, wenn man nur hohe Worte redet, ein Philosoph zu sein und so ein braver Mann zu werden. Und so macht man es wie die Kranken, die den Arzt zwar aufmerksam anhören, aber von seinen Anordnungen nichts befolgen. Sowenig also jene bei solchem Heilverfahren körperlich wohl fahren können, können diese es geistig, wenn das ihre Philosophie ist42.
Viertes Kapitel.
Hiernächst müssen wir untersuchen, was die Tugend ist.
Da es dreierlei psychische Phänomene gibt: Affekte, Vermögen und jene dauernden Beschaffenheiten, die man Habitus nennt, so wird die Tugend von diesen dreien eines sein müssen. Als Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist; als Vermögen das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht, was uns z. B. befähigt, Zorn oder Trauer oder Mitleid zu empfinden; als Habitus endlich das, was macht, daß wir uns in Bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten, wie wir uns z. B. in Bezug auf den Zorn unrichtig verhalten, wenn er zu stark oder